Odessa
- eine Studienreise
im Januar 2002Gespräch beim
International All - Ukraine Odessa Associations of Jews
"Was wollen Sie denn nun wissen? Jüdisches Leben und
Antisemitismus sind nicht das gleiche!" — Wir waren unvorbereitet in das
Büro des International All- Ukraine Odessa Associations of Jews
gekommen.
Uns saßen vier ältere Damen gegenüber, die entweder
rauchten oder sich im Internet vertieften und uns keines Blickes
würdigten. Die Antwort kam auf unsere umständliche Frage, ob sie der
kleinen Gruppe aus Deutschland etwas zum Alltagsleben in der Ukraine und
in Odessa, zur Geschichte der Juden und zum Umgang mit der Shoah in der
Ukraine erzählen könnten. Wir werden an die Studenten der
Studentengruppe Migdal ein paar Räume weiter gereicht, die uns dann
plötzlich verdutzt gegenüber sitzen.
Alle unsere Gesprächspartner studieren. In Odessa sind durch die
Sowjetregierung eine Universität, polytechnische und medizinische
Schulen, eine Marineakademie und ein Konservatorium gegründet worden.
Sie alle sind noch ohne große Studiengebühren zugänglich. Das breite
funktionierende Bildungssystem unterschiedet die Ukraine von einem
Großteil der sogenannten Dritten Welt. Wie selbstverständlich sind auch
bei unseren Gesprächspartnern die Studienfächer nach der ökonomischen
Notwendigkeit ausgewählt: Entweder eine Naturwissenschaft, eine Sprache
oder am häufigsten Wirtschaft. Verständlicherweise wollen unsere
Gesprächspartner sich nicht auf die Rolle des „Juden in Odessa"
reduzieren lassen. Bevor wir zum geplanten Gesprächsthema kommen,
erzählen sie von der Stadt. Odessa wird uns als der wichtigste Handels-
und Fischereihafen der Ukraine vorgestellt. Für uns von Interesse seien
aber eher die vielen Museen, Theater und das Opernhaus. Die Geschichte
der Stadt geht auf eine griechische Kolonie zurück, die im Altertum an
der Stelle der heutigen Stadt bestanden habe. Die berüchtigten
Krimtataren trieben hier im 14. Jahrhundert Handel. Odessa selbst wurde
1794 als russische Marinefestung auf einem der Türkei 1792 abgerungenen
Boden von Zarin Katharina II. gegründet. Im frühen 19. Jahrhundert war
die russische Niederlassung ein bedeutender Getreideexporthafen.
Vom „Glanz der Perle am Schwarzen Meer" ist wenig übrig geblieben
Die Studierenden erzählen von der wirtschaftlichen Stagnation, die die
Stadt genauso wie die gesamte Ukraine trifft. Im Hafen, einst
wirtschaftliches Zentrum der Stadt, arbeitet nur ein Viertel der
riesigen Lastkräne. Viele Industriebetriebe haben die Produktion
heruntergefahren oder liegen ganz still. Am Pier für die
Passagierschiffe legen die meisten Kreuzfahrtschiffe nur für ein paar
Stunden an. Die Stadt, ihre Straßen, privaten und öffentlichen Gebäude
oder die Busse und Trams sind seit 1990 dem Verfall ausgesetzt. Der
erhoffte Aufschwung durch die Einführung des Kapitalismus ist nach dem
Zusammenbruch des Sowjetsystems ausgeblieben.
Zu Sowjetzeiten gehörte die Stadt zur Ukrainischen Sozialistischen
Sowjetrepublik. Odessa war vor 1991 Industriezentrum und wegen des
milden Klimas ein beliebter Erholungsort. Der Reichtum der Stadt ist
verschwunden. Allenfalls an den Fassaden der Stadthäuser ist er noch
abzulesen. Die Armut ist deutlich sichtbar. Es ist kaum möglich, auf der
Strasse zu gehen, ohne Menschen zu sehen, die die Mülltonnen nach
Essbarem durchwühlen. Offiziell ist die Arbeitslosigkeit zwar niedrig,
aber an diese Ziffern glaube nicht einmal mehr der Bürgermeister. Jeder
zweite lebe in Odessa in Armut, so die Antwort auf unsere Frage nach dem
Alltagsleben in Odessa. Später lesen wir im Reiseführer von 100 Euro
Durchschnittseinkommen im Monat und 20 Euro gesetzlicher Rente bei einem
Preisniveau, das sich immer mehr den westlichen Verhältnissen angleicht.
Lediglich die Grundnahrungsmittel wie Brot, Wodka oder Fleisch kosten
etwa 50% der westlichen Preise. Die meisten Familien unserer
Gesprächspartner leben in kleinen Ein- bis Zweizimmerwohnungen. Nur
wenige Menschen besitzen eine Eigentumswohnung. In der Stadt sind die
Appartements mit Strom, Wasser und Gas ausgestattet, „während Häuser auf
dem Land viel schlichter sind". Der im Kopf immer wieder
umherschwirrende Vergleich mit anderen Ländern will auch an dieser
Stelle nicht passen: Verwiesen werden wir auf das vorbildlich
funktionierende System des öffentlichen Personenverkehrs, der vor 1999
sogar kostenlos war. Straßenbahnen und Busse sind die wichtigsten
Verkehrsmittel in Odessa.
Auf den absehbaren ökonomischen Zusammenbruch wird schon seit der
Unabhängigkeit mit einem autoritären ukrainischen Nationalismus
reagiert. Dieser macht sich vor allem an der Bezugnahme auf das Kiever
Rus des 9. bis 12. Jahrhunderts — die erste Ostlawische Staatsbildung —
fest, das gegen Rußland in Anschlag gebracht wird. Das nationale Symbol
der Ukraine, der Tryzub, war das Hoheitszeichen der Herrscherfamilie der
Kiever Rus. Der Tryzub, der einen Dreizahn symbolisiert, war auch das
Erkennungszeichen der nationalistischen Bandera-Bewegung, die von der
Wehrmacht in der Westurkraine ausgebildet wurde. Eine ähnliche
Geschichte hat das Staatswappen, das im Zweiten Weltkrieg das Symbol der
SS-Division Galizien war.
„Wir hoffen, dass dieser Spuk mit der Sprache
bald aufhört"
Motor des ukrainischen Nationalismus und alltägliches Ärgernis ist die
Sprachenpolitik der Regierung in Kiew. Das Ukrainische ersetzt das
Russische. Ukrainisch ist nun Staats-, Amts- und Schulsprache. Letzteres
allerdings nur begrenzt, weil es noch nicht genug Lehrer dafür gibt. Die
ukrainische Sprache ist vom Russischen etwa so weit entfernt ist wie das
Niederländische vom Deutschen. Für die Odessiten handelt es sich
schlicht um einen Bauerndialekt des Russischen. Groß ist jedoch die
Erregung über die Sprachenpolitik Kiews auch bei Migdal nicht. Zu
Sowjetzeiten war die Staatssprache Russisch, das Ukrainische war nur
Folklore. In Odessa, das von seinen Bewohnern schon immer als
internationale Stadt verstanden wurde, spielt Ukrainisch sowieso eine
untergeordnete Rolle. Im Alltag haben die Studierenden längst ihren
Ausweg mit der verordneten Sprache gefunden: Sie reden Russisch,
schreiben Russisch, sehen russischsprachige Fernsehprogramme – im
Gegensatz zu den Sendern des Staates, wo nur Ukrainisch gesprochen wird.
„Wir hoffen, dass dieser Spuk mit der Sprache bald aufhört", unsere
Gesprächspartner scheinen sich alle einig zu sein. Der Bürgermeister
macht keine Ausnahme erfahren wir. Auch er redet mit seiner Sekretärin
Russisch.
Jüdisches Leben in der Ukraine
Bevor wir zur Geschichte der Juden in der Ukraine kommen, weisen uns
unsere Gesprächspartner auf die dominierende Rolle des Christentums in
der Ukraine, hauptsächlich vertreten durch die ukrainisch-orthodoxe, die
römisch-katholische und die ukrainisch-katholische Kirche, hin. Die
Kirche spiele eine wichtige Rolle in der Gesellschaft, auch für die
Meinung gegenüber den Juden. Zur Zeit des Kommunismus wurde die
Religionsausübung nicht gern gesehen, aber nachdem Gorbatschow Ende der
achtziger Jahre die Religionsfreiheit einführte, kam es zu einer
Aufschwung der Religiosität in allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion.
Seit der Unabhängigkeit hat sich dieser Trend in der Ukraine
fortgesetzt. Dies gilt auch für das jüdische Gemeinschaft, die in der
Stadt mit Hilfe des amerikanischen Joint durch mehrere Synagogen, Klubs
und ein Gemeindezentrum wieder präsent ist. Außer Juden leben noch
andere Minderheiten in Odessa: Russen, Weißrussen, Moldauer, Polen,
Ungarn und Rumänen. Auch werden wir auf die neue Moschee in Odessa und
das islamische Gemeindezentrum hingewiesen. Dort sollen Spenden für
Osama Bin Laden gesammelt worden sein, aber so genau weiß das dann auf
Nachfrage auch niemand.
Wir fragen nach der Geschichte Odessas vor dem Zweiten Weltkrieg, nach der
Jüdischen Geschichte vor der Schoah. Die jüdische Minderheit bildet
heute einen wesentlich kleineren Bevölkerungsanteil als vor der
Massenvernichtung. Trotzdem gilt Odessa heute mit über 40.000 Juden als
ein sehr bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens innerhalb der ehemaligen
UdSSR. 40.000 Menschen, das sind 5 Prozent aller Juden der ehemaligen
Sowjetunion, rechnen wir nach dem Gespräch aus.
Erstmals siedelten sich Juden nach 1800 in Odessa an.
Odessa wurde Mittelpunkt der intellektuellen Haskala, der jüdischen
Aufklärung. Die Stadt hat seit ihrem Bestehen bedeutende jüdische
Persönlichkeiten hervorgebracht. Verwiesen werden wir von unserem
Gegenüber auf den Dichter Chajm Bialik, den großen zionistischen
Politiker Vladimir Jabotinski und auf den Historiker Simon Dubnow. Im
späten 19. und im 20. Jahrhundert war die Stadt das bedeutendste
jüdische-literarische und zionistische Zentrum im zaristischem Rußland.
Im Unterschied zum restlichen Land waren die Juden Odessas nie
Schutzjuden, sondern immer freie Bürger. Im Zuge der Oktoberevolution
1917 erhielten die Juden kurzzeitig eine kulturelle Autonomie, die
jedoch schon bald wieder abgeschafft wurde. Besonders litten die Juden
unter dem Bürgerkrieg, der vielfach zu antijüdischen Progromen führte.
In den ersten 20 Jahren der Sowjetunion erblühte in Odessa ein reiches
jüdisches Geistesleben, das jedoch immer stärkeren Repressionen
unterworfen wurde und später faktisch aufhörte zu existieren. Die
meisten Juden waren in den 30er Jahren Facharbeiter, Mitglieder der
technischen Intelligenz. oder Freiberufler. Vor der Shoah lebten noch
180.000 Juden in Odessa. Zwischen 1941 und 1944 wurden alleine in Odessa
fast 100.000 Menschen ermordet. Mehrere Tausend jüdischer Überlebenden
sind von ortsansässigen Ukrainern und Russen versteckt worden. Zwar
wurde Odessa nach dem Krieg abermals ein bedeutendes Jüdisches Zentrum,
aber unter Stalin konnte sich keine jüdische Kultur mehr entfalten:
Synagogen wurden geschlossen, Rabbiner in Arbeitslager deportiert.
Latenter Antisemitismus und Benachteiligungen im Arbeitsleben waren an
der Tagesordnung. Das änderte sich auch unter seinen Nachfolgern kaum.
Einzelnen jüdischen Familien wurde es seit Ende der sechziger Jahre
gestattet, nach Israel auszuwandern.
„You know ... the people don’t like Jews"
Unsicher reagieren die Studenten auf die Frage nach einer Einschätzung des
aktuellen Antisemitismus. Sie sind sich unsicher, was die ihnen
gegenübersitzende Gruppe von Deutschen zu hören erwartet. Die Antwort
fällt knapp aus: „Es gibt heute keinen Antisemitismus in Odessa". Wir
versuchen unsere Frage anders zu formulieren: „Was ist vom sogenannten
liberalen Geist Odessas im Bezug auf den Umgang mit Jüdinnen und Juden
zu halten?" Der liberale Geist von Odessa sei überwiegend Mythos.
„Gewiss, die Leute lassen sich über die ukrainische Obrigkeit und ihre
Entscheidungen aus, aber bei den Juden hört die Liberalität auf."
Schließlich ist die Ukraine das Land, indem mit dem Chmielnicki-Pogrom
einer der blutigsten antijüdischen Ausschreitungen vor der Shoah
stattfand. Die Haltung gegenüber Juden unterscheide sich heute nicht
groß von den auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken vorherrschenden
Vorurteilen. Schon im Kindergarten werde nicht mit Juden gespielt.
Häufig werden die negativen Einstellungen auch in verächtliche Witze
über Juden verpackt. „You know ... the people don’t like Jews" ist die
Zusammenfassung, auf die sich die Anwesenden einigen können. Von dem
ukrainischen Staat erwarten sich unsere Gesprächspartner keine Hilfe.
Sie sind froh, dass er sich aus ihren Angelegenheit heraus hält.
Immerhin hat er ein Denkmal für die Opfer der Shoah in Odessa aufstellen
lassen.
Auswanderung? Keine Frage!
Schließlich die letzte Frage: „Wie steht ihr zu der Frage der Auswanderung
nach Israel?". Sie wird mit einem allgemeinen Lächeln beantwortet. Eine
eindeutige Antwort gibt es nicht. Reihum werden die Anwesenden befragt.
Alle schätzen ihre Zukunftschance als nicht so schlecht in Odessa ein.
Doch eindeutiger, als die Frage nach einer beruflichen Zukunft fällt das
Urteil über die Lage in Israel aus. In der augenblicklichen Situation
ziehen sie es vor, erst einmal ihr Studium in Odessa zu beenden und dann
weiterzusehen.
Timo Reinfrank, Internationaler Arbeitskreis Berlin e.V.
04/02/2002 hagalil
zur Situation jüdischer Zuwanderer aus den ehemaligen
GUS-Staaten
zur Geschichte:
Sarahs Töchter
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