Berlin:
Die Stadt als
Freilichtmuseum
Ein wachsender
Geschichtstourismus auf den Spuren des Nationalsozialismus
Von Christian Saehrendt
Berlin verfügt über eine Vielzahl von authentischen Stätten der
nationalsozialistischen Geschichte. Obwohl Berlin nie Hochburg des
Nationalsozialismus war, sorgte seine Hauptstadtfunktion für eine
beispiellose Zusammenballung von Kultarchitektur, Funktionsbauten und
politischen Entscheidungszentren des "Dritten Reiches." Diese Objekte sind
zum großen Teil im Krieg zerstört worden. Was sich erhalten hat, wurde teils
museal aufbereitet, teils neuen Nutzungen ausgesetzt.
Der Krieg und die abgebrochene Tätigkeit von Albert Speers
"Generalbauinspektion für die Reichshauptstadt" ließen kein geschlossenes
städtebauliches Ensemble des Faschismus entstehen. Die Überreste jener Jahre
liegen vielmehr über das ganze Stadtgebiet verstreut, einige wichtige
Objekte befinden sich an der Peripherie.
Das Bild Berlins als Terrorzentrale des "Dritten Reiches" war in den Jahren
zwischen der Wiedervereinigung, der Olympiabewerbung und dem Hauptstadtumzug
Kern jener düsteren Assoziationen, die mit der "Berliner Republik" eine
beängstigende und vage totalitäre Zukunft verbanden. Doch in den letzten
Jahren hat sich das Berlinbild merklich aufgeheitert – die sozialen und
finanziellen Probleme der Stadt seien hier einmal gnädig zurückgestellt.
Berlin konnte sich als Reiseziel und Impulsgeber in Mode, Musik und Kunst
profilieren, wenngleich einige Ereignissen wie Flick- oder MoMA-Ausstellung
auf peinlich forcierte Weise inszeniert wurden. Angesichts der ungebremsten
Deindustrialisierung - inzwischen gibt es in der ehemaligen
Industriemetropole mehr Studienplätze als Arbeitsplätze im produzierenden
Gewerbe - wird der Tourismus ein wichtiger Faktor im Leben der Stadt
bleiben.
Die zahlreichen Geschichtszeugnisse bilden dabei ein kulturelles Kapital.
Manche Berlinbesucher bringen ein ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein mit,
viele lassen sich vom Wunsch leiten, in der Stadt Spektakuläres und
Gruseliges á la Führerbunker zu entdecken. Im Blick auf die Besucherzahlen
mancher Gedenkstätten, Museen und zahlreicher historischer Stadtführungen
läßt sich von einem wachsenden Geschichtstourismus sprechen, der gleichwohl
kritisch kommentiert werden sollte.
Zwei der wichtigsten Institutionen liegen am äußersten
Rand Berlins. Im Kontrast zu ihrer geographischen Lage behandeln sie den
Wesenskern des Nationalsozialismus: Das Haus der Wannseekonferenz
steht für den Mord an den europäischen Juden, das Deutsch-Russische
Museum in Karlshorst für den rassistisch motivierten "Lebensraum"-Krieg
im Osten.
Im Haus der Wannseekonferenz, einer idyllisch wirkenden Villa mit
Seegrundstück, wurde auf der berüchtigten Konferenz vom 20. Januar 1942 der
Völkermord an den europäischen Juden, der im Gefolge des
deutsch-sowjetischen Krieges schon in vollem Gang war, koordiniert und
systematisiert. Diese Zusammenhänge, aber auch die Vorgeschichte einer
sukzessiven Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerungsgruppe, werden in der
Dauerausstellung dargestellt. Das pädagogische Programm ist wohl so
umfangreich und weitgefächert wie in keiner anderen Berliner Gedenkstätte.
Seminare, Führungen und Kleingruppenarbeit werden für Schüler, Lehrer,
Lehramtstudenten, aber auch für Angehörige jener Berufsgruppen angeboten,
die damals an dem Völkermord beteiligt waren: Polizei, Justiz,
Krankenpflegepersonal. Derzeit besuchen 65.000 Menschen, darunter ca. 800
Gruppen, die Gedenkstätte im Jahr, wobei der Leiter der Gedenkstätte,
Norbert Kampe, über einen bemerkenswerten Zuwachs ausländischer
Besuchergruppen berichtet.
Das Deutsch-Russische Museum war jahrzehntelang ein sowjetisches
Militärmuseum, in seinem "Kapitulationssaal" wurde der historische Ort der
Unterzeichnung der bedingungslosen der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945
museal gepflegt. Mit dem Abzug der russischen Truppen übernahm die
Bundesrepublik die Pflege der sowjetischen Ehrenmäler. Für das
"Kapitulationsmuseum" fand man eine einzigartige, binationale Trägerschaft,
bei der russische und deutsche Ministerien, Museen und Forscher mitwirken.
In Abkehr von der traditionellen Militärgeschichtsschreibung werden in der
Dauerausstellung und in einzelnen Projekten zahlreiche Aspekte des
deutsch-sowjetischen Krieges behandelt, so z. B. die Geschichte der
Kriegsgefangenen, die Rolle von Frauen in der Roten Armee oder die
Fortwirkung des Mythos von Stalingrad im deutschen und russischen
Gedächtnis. 2003 hatte das Museum über 37.000 Besucher, wobei ein Drittel an
Führungen teilnahm.
In der Stadtmitte, im Regierungsviertel, wäre die Erinnerung an die
Terrorzentralen des "Dritten Reiches" fast getilgt worden. Eine
Bürgerinitiative "Verein Aktives Museum" sorgte Mitte der 1980er Jahre für
die Wiederentdeckung des historischen Ortes an der ehemaligen
Prinz-Albrecht-Straße. Auf engstem Raum konzentrierten sich die wichtigsten
Repressionsorgane des NS-Staates: Gestapo-Amt, SS-Führungsämter, SD,
Reichssicherheitshauptamt und das Hausgefängnis der Gestapo. Letzteres
befand sich in der ehemaligen Kunstgewerbeschule Prinz-Albrecht-Straße 8,
die nach dem Krieg abgerissen wurde.
Das Gelände wurde zum Niemandsland im innerstädtischen Grenzbereich, bis die
Bürgerinitiative 1986 ein Stück des Gefängnisbodens freilegte, und damit
eine Topographie des Terrors entstehen ließ. Sukzessive erweiterten
sich Ausgrabungen und Dokumentation, in der Politik wuchs Ende der 1980er
Jahre die Einsicht, daß es an der Zeit sei, nicht nur die Opfer des
Nationalsozialismus zu ehren, sondern auch den wissenschaftlichen Blick auf
die Täter zu richten. Land und Bund beschlossen, den Bau einer Stätte der
"Täterforschung" auszuschreiben. Das Argument, man dürfe die Täter nicht
durch einen ästhetisch und künstlerisch anspruchsvollen Bau "ehren",
vielmehr sei nur ein einfachster, funktionaler Bau geboten - das Wort
"Baracke" machte die Runde, verhallte ungehört.
Das ambitionierte Ausstellungsgebäude des Architekten Peter Zumthor, der
sich bis dato einen Namen mit der kunstvollen Überdachung römischer
Fundamente gemacht hatte, sprengte alle Kostenpläne. Probleme mit der
anspruchsvollen Betonstabwerkskonstruktion, Baustopps und eine Firmenpleite
ließen eine bizarre Bauruine entstehen, die nur aus der Bodenplatte und
einigen Haustechnik-Versorgungstürmen bestand und im Herbst 2004 abgerissen
wurde, um Platz für einen neuen Architekturwettbewerb zu schaffen. Die
Bauruine und die provisorische Ausstellung auf dem Gelände besuchten im
vergangenen Jahr 350.000 Menschen, 15.000 nahmen an Führungen teil.
Mehrere Großbauten des "Dritten Reiches" haben in den vergangenen Jahren
eine neue, repräsentative Funktion erhalten. Das
Reichsluftfahrtministerium in der Wilhelmstraße beherbergt heute das
Bundesfinanzministerium, die Reichsbank das Auswärtige Amt, auf dem
Reichssportfeld wird das Olympiastadion saniert. Für den Flughafen
Tempelhof, der demnächst aufgegeben wird, werden noch Investoren
gesucht.
Das Reichsluftfahrtministerium diente auch in der DDR als Amtssitz, 1996
wurde sein Abriß diskutiert, doch die Idee eines geschichtsbewußten und
denkmalgerechten Erhalts setzte sich durch. Heute gibt es Führungen zur
Geschichte des Hauses, durchschnittlich drei Gruppen besuchen das Haus
täglich, zudem ist es, wie auch das Auswärtige Amt, an "Tagen der offenen
Tür" gut besucht. Das Olympiagelände fiel nach dem Abzug der britischen
Militärverwaltung wieder an die Stadt zurück, die sich für eine
denkmalgerechte Sanierung statt eines Stadionneubaus entschied. Während für
das Stadion Sanierer und Betreiber gewonnen wurden – 2006 soll hier das
Endspiel der Fußballweltmeisterschaft stattfinden, bleibt die Zukunft des
angrenzenden Reichssportfeldes bislang offen. Aus der Sicht des Historikers
birgt es einige Altlasten, wie das NS-Kriegerdenkmal der "Langemarckhalle"
und die zahlreichen Plastiken Brekers und Thoraks. Eine kritische
Kommentierung wird vom Deutschen Historischen Museum derzeit vorbereitet.
Gleiches wäre erforderlich für das riesige Areal des Flughafens Tempelhof,
dessen NS-Vergangenheit bei der Vermarktung durch die Berliner Flughafen AG
tunlichst verschwiegen wird. Es bleibt zu hoffen, daß ein dort projektiertes
"Luftfahrt-Museum" nicht nur von positivistischer Technikbegeisterung
geprägt sein wird.
Insgesamt zeigt sich im Umgang mit der NS-Architektur ein gewachsenes
Selbstbewußtsein der "Berliner Republik", die sich von der Aura jener Zeit
nicht mehr atmosphärisch bedrücken läßt. Vielmehr drückt sich in der
Tatsache, daß das größte Nationaldenkmal, das nach 1989 im wiedervereinigten
Deutschland neu erbaut wurde, ein "Mahnmal zur Erinnerung an die eigene
Schande"
(Avi
Primor)
ist, eine Tendenz in weiten Teilen von Gesellschaft und politischem
Establishment aus, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen als Teil der
nationalen Identität zu akzeptieren. Schon lange vor seiner Fertigstellung
war das Denkmal für die ermordeten europäischen Juden zu einer
Attraktion geworden, die von Hunderttausenden besichtigt wurde. Nach seiner
Einweihung im Mai 2005 avancierte das Denkmal mit seinem angegliederten Ort
der Information rasch zu einem Besuchermagneten im Berliner
Regierungsviertel.
Christian Saehrendt ist
Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte der Humboldt-Universität zu
Berlin, Lehrstuhl Prof. Dr. Winkler, mit dem Schwerpunkt: Kunstgeschichte im
sozialen und politischen Kontext. Seit 2000 arbeitet er in Kooperation mit
Universitäten und Forschungseinrichtungen an Forschungsprojekten über
politische Denkmäler, internationale Kulturbeziehungen und die
Künstlergruppe 'Brücke'. Aktuelles Forschungsprojekt: Kunstausstellungen als
Mittel auswärtiger Kulturpolitik in der DDR und der Bundesrepublik.
1995-2000 Künstlerische Arbeit im Rahmen der Gruppe "Neue
Anständigkeit" in Berlin.
Und neu erschienen:
Christian Saehrendt, Steen T. Kittl:
Das kann ich auch! Die Gebrauchsanweisung für moderne Kunst
DuMont Verlag 2007, 220 Seiten mit 50 Abb., Euro 14,95
Eingang zum Olympiastadion
© C. Saehrendt, 2003
Langemarckhalle (Kriegerdenkmal)
Olympiagelände Berlin 1935
© C. Saehrendt, 2003
Langemarckhalle (Kriegerdenkmal)
Olympiagelände Berlin 1935
© C. Saehrendt, 2003
Plastik von Karl Albiker, "Staffelläüfer"
Olympiagelände Berlin 1936
© C. Saehrendt, 2003
Plastik von Arno Breker, "Siegerin"
Olympiagelände Berlin
© C. Saehrendt, 2003
Plastik von Arno Breker, "Zehnkämpfer"
Olympiagelände Berlin
© C. Saehrendt, 2003
Plastik von Josef Thorack, "Faustkämpfer"
(Max Schmeling stand Modell)
Olympiagelände Berlin 1935/36
© C. Saehrendt, 2003
"Grossbelastungskörper", Firma Dyckerhoff + Widmann 1941
An dieser Stelle in Berlin Schöneberg sollte ein Triumphbogen für die
deutschen Gefallenen des Ersten Weltkrieges erreichtet werden. Mit dem
Betonzylinder wurde die Tragfähigkeit des Bodens geprüft.
© C. Saehrendt, 2003
Der Stellungskrieg der Denkmäler:
Kriegerdenkmäler im
Berlin der Zwischenkriegszeit (1919–1939)
Die Konflikte um die Kriegerdenkmäler in der Zwischenkriegszeit zeigen: Zu
tief waren die Gräben, die Krieg, Niederlage, Revolution und
Republikgründung gerissen hatten, als dass ein gemeinsames Gedenken an die
Opfer des Ersten Weltkrieges möglich gewesen wäre...
hagalil.com
16-07-06
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