
Als Rotarmistin in Berlin:
Mild und bitter
Von Waltraud Schwab
Die Lieblingsfarbe von Guenia
Smouchkevitch ist jene der Hoffnung, des Wachstums, des Gleichklangs.
Silbergrün, wie die Blätter von Pappeln, so glänzen Ring, Armreif und
Kette, die sie trägt. Dazu der Ton ihrer Kleidung: zusammengestellt aus
efeu, moos und oliv. Selbst Seife, Handtücher, der Stiel der
Geschirrbürste in ihrer Berliner Wohnung changieren zwischen
Flaschengrün und zartem Smaragd. Mit der Farbe bejaht Guenia
Smouchkevitch das Leben. "Es ist schön."
Dagegen der Tod: Von ihm hatte Guenia
Smouchkevitch zu viel, als sie jung war. Der Tod ist schwarz vom
verkrusteten Blut. Er ist bleich. Leer. Deshalb Grün. Deshalb das Leben.
Smouchkevitch hat Menschen ohne Gesichter gesehen, ohne Arme, ohne
Beine. Sie hat Soldaten gesehen, die nur noch Fleisch waren, noch nicht
einmal mehr Blut. Sie erinnert sich an Männer, die stürzen, die fallen,
die verbluten, erfrieren, verhungern. Die Bilder vor ihrem inneren Auge
überwältigen sie. Wahllos greift sie eines heraus. "Die Verwundeten
haben nicht vor Schmerzen, sondern vor Hunger gebrüllt. Wir haben
erfrorene Pferde gekocht. Mit Pickel haben wir Stücke aus ihnen
herausgehauen. Noch roh haben die Soldaten das Fleisch verschlungen."
Smouchkevitch schreit den Schrecken ins Mikrofon. Jeden Tag sind die
Soldaten hinausgezogen. "Wenn sie zurückkamen, waren es noch die Hälfte,
drei Viertel". Es ist ihre in der Verneinung aufgegangene Antwort auf
die Frage: "Wie viel Tote haben Sie gesehen?" Die gebeugt gehende Frau
macht daraus: "Wie viele Tode habe ich gesehen? - Alle Tode, die es
gibt." Sie weiß, wovon sie spricht. Sie war selbst Soldatin. Sanitäterin
in einem Maschinengewehrbataillon an der Front. In der Roten Armee.
Jahrelang. Im "Zweiten Vaterländischen Krieg".
"Fragen Sie alles", sagt Guenia
Smouchkevitch. "Egal, ob ich mich aufrege, ob ich schreie." Wie alle
Veteraninnen weiß sie: Sie muss so viel erzählen, wie sie kann. Sie muss
so lange erzählen, wie sie kann. Wie lange wird sie noch können? "Ich
wünsche von ganzem Herzen, dass niemand jemals die Schrecken des Krieges
kennen lernen wird." Sie sagt es in einer Sprache, die zu Berlin passt:
In Jiddisch, ihrer Muttersprache, gemischt mit Russisch und Deutsch.
Litauisch spricht sie auch. Sie sagt "Litaunisch". Es erinnert an
"launisch". Ihre Heimat hat sie mit Ambivalenz lieben gelernt. An ihr
lag es nicht.
Smouchkevitch ist in Kaunas geboren.
"Das kleine Paris Litauens", sagt sie. Am Tag, als der Krieg in ihre
Stadt kommt, ist sie auf einem Dampfer. Eine Ferienfahrt. Für
Jugendliche. Zuerst denkt sie bei den Schüssen an eine Übung.
Schließlich ist sie mit dem Lied groß geworden: "Hitler hat hölzerne
Soldaten, hölzerne Panzer, hölzerne Flugzeuge. Stalin hat eiserne
Soldaten, eiserne Panzer, eiserne Flugzeuge." Der
Unbesiegbarkeitsmythos. Die 77-Jährige singt es vor. Mit kraftvoller
Stimme. Als jedoch eine Granate das Schiff trifft, wissen alle: "Krieg!"
Der Dampfer fängt Feuer. Sie und die anderen schaffen es zurück ans Ufer
und beginnen zu laufen. Wohin? Warum? "Mir seinen gelofen, gelofen,
gelofen." Erneut türmen sich die Bilder vor Guenias Augen auf. Sie
berichtet, wie sie in ihrer Gruppe bis zur russischen Grenze rennen.
Tagelang. Dabei werden sie von oben beschossen. Unterwegs trifft sie
ihren "Djadja". Onkel. Er will, dass sie mit ihm und seinen Leuten
weiterzieht. An irgendeine Front, die noch keinen Namen hat. Sie lehnt
ab. In der Gruppe von Djadja ist ein Junge. Der wird in Smouchkevitchs
Leben einmal eine Rolle spielen. Das weiß sie noch nicht.
Um ihren Bericht zu verstehen, muss
man Guenia weiterrennen lassen. "Zeit gerinnt in der Erinnerung wie
Blut." Im Durcheinander ist nur eines sicher: Sie ist 15 Jahre alt und
sieht ihre Eltern und Schwestern nie wieder. Da jüdisch, werden sie ins
Ghetto von Vilnius verschleppt und später in Stutthof vergast.
Ich treffe Guenia Smouchkevitch in
ihrer Wohnung. Bei der Ankunft ist der Tisch reich gedeckt:
Auberginensalat, süßer Hering, Tomaten, Paprika, Obst in Sirup, Käse.
"Es ist Lunchtime. Essen Sie bitte." Es schmeckt gut. Die orangefarbenen
Lachskaviarperlen zergehen auf der Zunge. Mild und bitter in einem. Die
Rosinen im Salat verbinden das Saure mit dem Süßen. "So was lieben die
'litaunischen' Leute", sagt sie. Mild und bitter, süß und sauer: Zwei
Seiten des Lebens. Nicht nur mit der Wahl ihrer Lieblingsfarbe hat sie
sich dem Leben zugewandt, auch mit ihrem späteren Beruf:
Lebensmitteltechnologin. Essen, das bedeutet: am Leben bleiben. Sie hat
nach dem Krieg die staatlichen Kantinen in Vilnius aufgebaut und
geleitet.
Smouchkevitch ist eine von etwa einer
Million Frauen, die als Soldatinnen in der Roten Armee waren. Als
Scharfschützinnen, Minensucherinnen, Pilotinnen,
Fallschirmspringerinnen. Als Gefreite, Leutnants, Offiziere. Bei der
Artillerie, an der Front, hinter der Front, im Nachschub. Auch im Kampf
"Mann gegen Mann". Als "Soldaten zweiter Klasse" wurden die
Rotarmistinnen wahrgenommen. Für die Nazis waren sie "Flintenweiber" und
"Nachthexen". Die stalinistische Propaganda wiederum überhöhte sie zum
Idealtyp Heldin, Kämpferin - weiblich und furchtlos.
Teenager waren sie, als sie in den
Krieg zogen. Über Jahre nur Grausamkeit und Brutalität. "Wir hatten es
besonders schwer, wenn wir als junge Mädchen die Verwundeten auf unseren
Schultern trugen und sie im Kugelhagel verbanden. Häufig musste man den
Soldaten ersetzen und griff selbst zum Gewehr", erzählt Smouchkevitch.
Angriff? Verteidigung? Alltag im Krieg? Die alte Frau nickt. Wird still.
Sagt nichts mehr.
Außer Orden, die sie verliehen
bekamen, war Unterstützung bei der Verarbeitung der Kriegstraumata in
der Sowjetunion nach 1945 nicht vorgesehen. Stattdessen fühlten sich
viele Soldatinnen zurück in der Heimat gar gedemütigt, galten sie doch
oft plötzlich als "Fronthuren." Darauf angesprochen, gerät Smouchkevitch
außer sich. Im Gegensatz zu ihren Kombattantinnen aus anderen
sowjetischen Republiken wurde sie in Litauen respektiert, für das, was
sie getan hat. Geleistet hat. Erzählt sie.
An der Front war der Tod, aber da war
auch das Leben. Alles lag nah beieinander. Guenia Smouchkevitch verliebt
sich, lernt ihren Mann kennen. Jenen Jungen, der am ersten Kriegstag in
der Gruppe ihres Djadja ist. Er ist im Hauptquartier der Division. Sie
in der Kampfzone. Manchmal wird sie nachts auf Skiern ins Hauptquartier
geschickt. "Zehn, fünfzehn Kilometer durch Frontgebiet, überall deutsche
Späher." Damals hatte sie keine Angst, sagt sie. "Ich kenn nit gloiben,
dos wos ich hob alles iberlebt." Ist es Legende, fragt sie sich heute.
Alles vermischt sich in ihrer
Erzählung. "Ich hatte keine Abtreibung im Krieg", erklärt sie. Es klingt
wie ein Sieg über den Tod. Denn selbstverständlich sind Frauen schwanger
geworden an der Front. "A soy is der Leben." Guenia Smouchkevitch
spricht über Hingabe und meint alles: den Mann, in den sie sich verliebt
hat, den Verwundeten, den sie ins Leben zurückholt, den verwundeten
Feind, mit dem sie Jiddisch spricht, weil die Deutschen das verstehen.
Und sie meint den Kampf, die Ungewissheit, die Sehnsucht nach ihrer
Familie, nach der Antithese des Krieges. Es gibt einen Brief von ihr vom
5. Juni 1943 an ihre Eltern. Sie schreibt ihn kurz vor einer
entscheidenden Schlacht. Sie schickt ihn ohne bestimmte Adresse nach
Kaunas, in der Hoffnung, dass jemand weiß, wo ihre Eltern sind.
Metaphorisch nimmt sie darin jedoch den Tod ihrer Familie vorweg:
"Hierher, meine Lieben, bin ich freiwillig gekommen, um die Rechnung zu
begleichen für euren Kummer und Unglück, an dem ich genauso leide wie
ihr. Es ist jetzt laut hier. Wir bereiten uns zum Angriff vor. Leben
oder Tod. […] Bald sind es zwei Jahre, daß ich mich von meinen Nächsten
und Liebsten verabschiedet habe. Es fällt mir heute schwer, alles zu
beschreiben, was mir in diesen beiden letzten unglücklichen Jahren
widerfahren ist. […] Meine Lieben, ihr solltet mich wahrscheinlich
verachten, mich vergessen. Ich habe euren Haß verdient. Ich habe euch im
Feuer gelassen […]" Smouchkevitch liest den Brief vor, als hätte sie ihn
gestern geschrieben. Es gibt so wenig von damals, was bis heute
authentisch ist. Diese Worte sinds.
Nach dem Krieg studiert Smouchkevitch,
bringt drei Kinder zur Welt, baut Vilnius mit auf. Ihre letzte Prüfung
an der Fakultät macht sie, als sie schon Wehen hat. Sie kann Schmerzen
aushalten, wenn sie fürs Leben sind. Sie will eine zivile Gesellschaft.
Sie will, dass niemand je wieder hungern muss. Sie will das Leben. Ihre
Kinder studieren Medizin. Die Söhne wandern nach Amerika aus. Die
Tochter zieht nach Deutschland. Als die Sowjetunion zerfällt, Litauen
sich unabhängig erklärt, gibt es den Nebelgeruch von Bürgerkrieg. Guenia
Smouchkevitch erträgt es nicht. Nie mehr Krieg. Sie zieht zu ihrer
Tochter nach Berlin. Sie lebt in dem Land, das ihre Familie getötet hat,
dem Land, gegen das sie gekämpft hat. "Heute ist es mir egal, wo ich
wohne. Ich bin a Mensch und du bist a Mensch. Wir reden miteinander. Bei
mir gibt es keinen Unterschied in der Farbe des Körpers, der Sprache,
der Nationalität. Bei mir sind alle Menschen Brüder. Keine Mutter will,
dass ihr Kind umkommt. Ich will Frieden auf der ganzen Welt." Zum
Abschied schenkt sie mir ein Glas Pfirsiche, die sie in Sirup eingelegt
hat. Sie sind sehr süß.
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