Pitigliano ist auch in Berlin
RUTH FRUCHTMAN
Die von der Künstlergruppe
Meshulash konzipierte Ausstellung "Paradiso@Diaspora" im Centrum
Judaicum beschäftigt sich kritisch mit der Verkitschung und
Kommerzialisierung von jüdischer Kultur
"Sollte ich dich vergessen, o Jerusalem, so versage
meine Rechte", heißt eine Installation von Anna Adams. Der Titel ist ein
Zitat aus dem 137. Psalm - dem Lied der Israeliten im Exil - und
gleichzeitig der satirische Kommentar der Künstlerin zu jüdischem
Kulturkitsch heute. Unter einem Synagogenvorhang sieht man eine Hand
hervorscheinen, die nach einem Fisch greift. "Irgendwo steht eine
zerfallene Synagoge", erklärt Anna Adams, "wie die Synagoge in
Pitigliano zum Beispiel. Touristen kommen, man baut sie wieder auf,
verdient daran." Deshalb muss die rechte, jüdische Hand den Fisch, der
die Weisheit symbolisiert, schnell aus dem Wasser ziehen, bevor die
Touristen kommen.
Das Erstarren, doch auch das Vermarkten von jüdischen
Bräuchen und Kultur ist das Thema der Ausstellung Paradiso@Diaspora, die
von der jüdischen Künstlergruppe Meshulash konzipiert und veranstaltet
wurde. Jüdisches Leben in Europa wurde im Holocaust ermordet; Kommerz
und Kitsch haben es heute ersetzt. Es wird konserviert, museal.
Pitigliano, ein Städtchen in der südlichen Toskana, tatsächlich das
kleine Jerusalem genannt, war früher unbekannt. Jetzt kommen
Touristenscharen - aus Deutschland und auch aus Tel Aviv. Die Künstler
der Gruppe Meshulash haben aus Pitigliano einen eigenen mythischen Ort
geschaffen, gewissermaßen stellvertretend für ganz Italien. Denn die
Sehnsucht nach Italien entspricht der Sehnsucht nach dem Paradies. Heute
jedoch ist Italien kein Paradies, zumindest nicht für Juden. In seiner
Fotomontage "Synagoga und Synagoge" - nach dem Gemälde von Friedrich
Overbeck, "Italia und Germania" - schildert Ronnie Golz die Situation in
beiden Ländern: Hüben wie drüben werden die Synagogen von der Polizei
bewacht. Auch in Italien sind Neofaschismus sowie Witze über
Aschenbecher und jüdische Vorfahren keine Seltenheit.
Jahrhundertelang lebten Juden in Pitigliano, sie
machten die Hälfte der Bevölkerung aus. Jetzt ist die Synagoge zwar
restauriert worden, aber nur eine einzige Jüdin, Elena Servi, eine
reizende Achtzigerin, wohnt noch am Ort. Deshalb besteht Gabriel Heimler
auf seinem "Vermehrungskonverter": Man schaut durch den Papprahmen und
wird als "Jude von Pitigliano" fotografiert. "Wir sind keine Etrusker",
sagt er trotzig, "keine ausgestorbene Kultur." "Der letzte Mohikaner"
heißt die jüdische Keksmaschine von Caterina Klusemann, zur Aufbewahrung
der letzten Jüdin von Pitigliano: Elena Servi zeigt im Video, wie sie
ihre Kekse bäckt. Sie werden tatsächlich in der Maschine gebacken, man
kann sie kaufen, das Kochbuch noch dazu, und auch die Keksmaschine zum
Selberbasteln ist käuflich. Nicht zufällig findet die Ausstellung in den
Räumen des Centrum Judaicum mit seinen geschwungenen restaurierten
Fenstern und glatten Wänden statt: Pitigliano ist auch Berlin.
Und auch sonst gibt es eine Vielfalt von Antworten und
Vorstellungen: Die Römerin Ariela Böhm zeigt ihre Thorarolle "Identität"
und weist auf die verschiedenen Möglichkeiten, als Jude zu leben und zu
fühlen; Dodi und Flori Reifenbergs "sprechende" Collage des
italienischen Stiefels "Insulapeninsulina", aus Plastiktüten, ist ein
Fest von Farben. Tobia Ravà aus Venedig beunruhigt mit seiner
Zahlenmystik - angeblich dechiffrierbar.
Die Jüdische Gemeinde weiß, was sie an der Grupe
Meshulash hat: die kritischen Stimmen jüngerer Künstler, das echte
jüdische Leben heute. Allerdings nicht zum Verkauf.
Bis 14. 12., Centrum Judaicum, Oranienburger Str.
28 - 30, Mitte, So - Di von 12 - 18 Uhr, Fr 10 - 14 Uhr
taz
Berlin lokal Nr. 6300 vom 18.11.2000, Seite 32, 119 Zeilen, Kommentar
RUTH FRUCHTMAN
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http://www.pitigliano-ferien.de
Peter Petri: La Piccola Gerusalemme, Öl auf Leinwand,
(4 mal 30 x 150 = 150 x 150)
Gemälde zur Ausstellung "Paradiso@Diaspora"
der Künstlergruppe Meshulash im November / Dezember 2000 bei den
Jüdischen Kulturtagen Berlin im Centrum Judaicum.
Abb. oben Eingang zur Synagoge - Zeichnung: © Peter Petri
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