
Mikwe oder
Lebensübergänge durch Rituale gestalten
Von Rabbinerin Melissa Crespy
Ich erinnere mich daran, wie sehr ich mir vor zwölf
Jahren kurz bevor ich zur konservativen Rabbinerin ordiniert wurde,
gewünscht habe, daß das alte Ritual etwas Salböl auf die Köpfe der zu
"Ordinierenden" zu träufeln, noch bestehen möge. Sechs intensive Jahre hatte
ich damit zugebracht mich auf das Rabbinat vorzubereiten. Auf dem
Rabbinerseminar hatte ich viel gelesen und studiert, umfangreiche Texte
verfaßt zu Talmud, Bibel, Geschichte und theologischen Fragestellungen.
Lange Stunden hatte ich in der Bibliothek verbracht.
Ich wünschte mir ein konkretes Ritual, das die harte
Arbeit, die langen Stunden des Studierens und was ich damit erreicht hatte
sichtbar machen sollte. Ich glaube, ich wollte auch ein spezielles Ritual,
das die Änderung meines Status von einer ganz normalen Jüdin zur Rabbinerin
deutlich machen sollte. Ich denke nicht, daß ich mich wirklich über das
Salböl auf meinem Kopf gefreut hätte, aber ich sehnte mich nach einem
Ritual, das diesen Dreh- und Angelpunkt in meinem Leben als solchen sichtbar
machen würde.
Es lief darauf hinaus, daß meine Mitstudenten und
Mitstudentinnen (und andere vor uns) wohl genauso empfunden haben, denn wir
entwickelten eine spezielle Zeremonie - einen Sijum, der den Abschluß
unserer Studien bezeichnete.
(Anm. d. Übers: ein Sijum
Mvjs wörtl.
"Abschluß" ist ein Ritual, das durchgeführt wird, wenn eine Torahrolle zu
Ende geschrieben wurde oder das Lernen eines Talmudtraktats beendet wurde.
Es ist mit speziellen Segenssprüchen, Gebeten, Liedern und einer Mahlzeit
verbunden. Die Form der Ausgestaltung einer solchen Feier geht auf die
Interpretation Rabbi Eliesers von 1 Melachim (Könige) 3,15 zurück)
Während dieses Sijum wurden wir in einen speziellen
Seminartallit (Tallit = Gebetsschal) vom Rektor des Rabbinerseminars
eingehüllt. Es war ein außergewöhnlicher Augenblick für mich, und ich glaube
meine Emotionen schlugen deshalb höher, weil dieser spezielle Tallit ein
Erinnerungszeichen für mich war, was diese Jahre des Lernens, des inneren
Wachstums und der Veränderung für mich bedeuteten.
An diesen Moment, der voll war von Ritual und Bedeutung,
dachte ich zurück als ich in im Wochenabschnitt Metzora (3 Mose 14,1 -
15,33) las, wie ein Reinigungsritual für eine Person mit Aussatz, einer
furchtbaren Hautkrankheit, ablief. Im Wochenabschnitt der letzten Woche
haben wir studiert, wie der Priester und die Gemeinschaft von der Krankheit
erfuhren, wir lernten die Erscheinungsformen dieser Krankheit kennen und wie
die betroffene Person beobachtet wurde um zu sehen, ob er oder sie Zeichen
einer Verstärkung der Infektion oder Zeichen von Heilung aufwies.
Im Wochenabschnitt dieser Woche erfahren wir, wie der
Leprakranke, der von der Krankheit "frei" geworden war, gereinigt wurde. Es
ist ein sehr differenziertes Ritual, zu dessen Bestandteilen Tieropfer,
Rasieren des Körperhaares, Verspritzen von Blut und Öl, sowie das
Untertauchen in Wasser gehören. An einer bestimmten Stelle des
Reinigungsrituals wird erst etwas Blut und dann etwas Öl auf das rechte Ohr,
den Daumen der rechten Hand und die große Zehe des rechten Fußes getan.
Zuerst kam mir dieses Ritual merkwürdig, dreckig und
unzugänglich vor, weil es auf mich altertümlich wirkte. Später fand ich es
enorm bedeutungsvoll für eine Person, die unter einer lebensbedrohlichen
Krankheit gelitten hatte, und die nun in einem sehr öffentlichen und
speziellen Rahmen von ihrer Krankheit "gereinigt" wird und in der
Gemeinschaft wieder willkommen geheißen wird. Ich war niemals von einer
lebensbedrohlichen Krankheit betroffen. Aber ich stelle mir vor, daß ich -
wenn ich eine solche schwere Krankheit überlebt hätte - dann etwas Positives
tun wollte um das Ende dieser schrecklichen Periode meines Lebens deutlich
zu machen und den Beginn eines neuen Lebens zu feiern.
Im Sefer haChinnuch - wie er im Ez Chajim Chumasch zitiert
wird - heißt es, daß der Leprakranke, der seinen Körper in Wasser badete
nicht nur sich reinigte. Das Baden symbolisierte Wiedergeburt und
Neuschöpfung. Die Erfahrung von Krankheit und Heilung machte aus dem
Leprakranken eine neue Person, jemand, der nun aus einer anderen Perspektive
auf das Leben schaute (Seite 661). Ich stelle mir vor, daß ich nachdem ich
eine lebensbedrohliche Krankheit überlebt habe, das Leben anders sehen würde
und deshalb den Wunsch nach einer Zeremonie hätte, die diese positive
Veränderung in meinem Leben zum Ausdruck bringen würde.
Es gibt Menschen, die aus diesem Grund in die Mikwe
gegangen sind und untertauchten. Sie haben Brustkrebs überlebt oder eine
Fehlgeburt gehabt und möchten den Wiedereintritt ins Leben mit einem Ritual
begehen. Ich verstehe sie und klatsche ihnen Beifall. So wie ich danach
Sehnsucht hatte, die Veränderung von der Studentin zur Rabbinerin zu
markieren, und so wie sich viele von uns sich danach sehnen spezielle
Geburtstage, Jahrestage, Bnei Mizwa und Hochzeiten mit speziellen Zeremonien
zu feiern, so lehrt uns dieser Wochenabschnitt Metzora daß die, die eine
lebensgefährliche Krankheit überwunden haben auch ein Ritual brauchen
können, das diesen wichtigen Moment in seiner Bedeutung begeht. Wir beten
darum, daß es viele Gelegenheiten geben möge eine Genesung zu feiern und daß
unsere Gemeinschaft dabei mit uns sein möge, wenn wir das tun.
Übersetzung: Iris Noah
Rabbi Melissa Crespy ist Rabbinic Fellow am
JTS. Sie schreibt dort regelmässig
unter "The Weekly Torah Commentary of JTS Kollot: Voices of Learning" zum
Wochenabschnitt. Das JTS (Jewish Theological Seminary) ist die
Ausbildungsstätte für konservative Rabbiner und Lehrer und führt mehrere
Institute für Erwachsenenbildung.
Mikwe (rituelles Tauchbad)
hvqm
Zum Weiterlesen:
Tahara, Tumah und Mikwe -
rituelle Reinheitsgebote im Judentum
Eine
Mikwe für Feministinnen
Ein
Namensgebungsritual
Jüdische
Frauen und ihre religiösen Traditionen in Geschichte und Gegenwart
Glossar jüdischer Begriffe
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