Nicht nur, dass ein koscheres
Lebensmittelgeschäft schließen musste:
Arabischer Antisemitismus in Berlin
Eine mir unbekannte Journalistenkollegin ruft an und will
"ganz privat" wissen, wie ich "die Sache in Tegel" einschätze; gemeint ist die
Schließung des koscheren Lebensmittelgeschäftes "Israel Deli". In ihrer
Redaktion werde morgen darüber gesprochen, wie mit dem Thema verfahren wird.
Große Chancen gibt sie dem Vorfall nicht in den Lokalteil ihrer Zeitung zu
kommen, denn schließlich ist der Fall journalistisch gesehen "nicht mehr heiß",
da die Schließung vor knapp fünf Wochen erfolgt sei....
Ein Kommentar von Iris Noah
Ja, wenn man da vorher was gewusst hätte - siniert
sie vor sich hin - da hätte man was machen können. Hat sie vergessen, daß in der
lokalen Presse in Form von Kurzmeldungen vom Einwerfen der Schaufensterscheibe
und den zerstochenen Autoreifen berichtet wurde? Durch den zeitgleichen Besuch
des israelischen Präsidenten wurde die Vorfälle damit in Verbindung gebracht und
nach dessen Abreise schien dann auch das - medial gesehen - erledigt zu sein.
Jetzt kann man ja nichts mehr machen - meint sie weiter - und wie schön es
gewesen wäre, wenn Herr T. bis zu seiner Rente das Lebensmittelgeschäft
betreiben hätte können. Und wenn er dann in fünf Jahren nach Israel gegangen
wäre, hätte man eine Erfolgsstory über den Laden schreiben können. Aber das habe
sich jetzt erledigt. Was muß der Mann an seinem Geschäft eine Israelflagge
anbringen. Das müsse doch förmlich als Provokation aufgefaßt werden - besonders
bei der derzeitigen politischen Situation.
Ich frage nach, wie sie das
mit der Provokation meint. "Auf dem Höhepunkt des Nordirland-Konflikts wäre doch
in Belfast auch niemand auf die Idee gekommen eine Union Jack aus dem Fenster zu
hängen". Ich weise darauf hin, daß wir in Berlin sind und weder in Belfast noch
im Nahen Osten.
In diversen Gemüseläden meiner Umgebung, die von arabisch
sprechenden Menschen betrieben werden, hängen Fahnen oder Abbildungen von
Fahnen, die auf die Ursprungsländer der Ladeninhaber verweisen - manchmal in
Kombination mit der Palästinaflagge und manchmal ohne. Als ich letzte Woche bei
jüdischen Freunden zu Besuch war, hing am Fenster gegenüber, wo eine arabische
Familie wohnt, eine Palästinafahne. Weder von Juden noch von nichtjüdischen
Deutschen habe ich bis jetzt gehört, daß das unter "Provokation" fällt. Leute,
die selber für sich das Recht in Anspruch nehmen, für ihre Meinung "Flagge zu
zeigen" müssen das auch anderen zugestehen. Ich erinnere daran, daß vor
kurzer Zeit durch die Berliner Medien ein Bericht aus dem Prenzlauer Berg ging,
wo ein Mann auf seinem Balkon eine Israelflagge positioniert hatte. Die
Hausverwaltung hatte Beschwerde eingelegt und mit Kündigung gedroht, der
Bewohner hat sich inzwischen eine andere Wohnung gesucht. Gelten hier
unterschiedliche Maßstäbe für die Palästinaflagge und für die Israelflagge?
Und so ganz neu sei das Thema "arabischer Antisemitismus" nun nicht, füge ich
hinzu. Ich erinnere an das Frühlingsfest "Nisan", das im Jahr 2002 von der
türkischen Community in Berlin organisiert wurde. Alle Berliner Kinder und
Jugendlichen wurden in ein örtliches Sportstadion eingeladen und sollten auch,
wenn sie das wollten, einen Informationsstand über ihre Schule oder Gruppe
machen können. Wirklich alle? Die Schülerinnen und Schüler der jüdischen
Oberschule Berlinkonnten nicht teilnehmen - so war es in einem Interview mit der
Rektorin zu lesen - da man sich nicht in der Lage sah deren Sicherheit zu
gewährleisten.
In den letzten Monaten gab es in den öffentlichen
Verkehrsmittel mehrere Übergriffe auf orthodoxe Juden oder Menschen, die für
Juden gehalten wurden, weil sie einen Davidstern trugen. Eine jüdische
Berlinerin, die früher regelmäßig öffentlich eine Kippa trug, tut dies
inzwischen nicht mehr, weil sie mehrmals belästigt wurde - ebenfalls von
arabisch sprechenden Jugendlichen. Als sie während der abendlichen Stoßzeit mit
der U-Bahnlinie 9 nach Schöneberg unterwegs war, stiegen an der Haltestelle
Kurfürstendamm drei arabisch sprechende Jugendliche zu - und skandierten im
vollbesetzten U-Bahn-Abteil bei ihrem Anblick minutenlang "Tod den Juden" ohne
daß irgendeiner der Fahrgäste sich dazu äußerte. Erst als sie selber die
Schreier mit "schecket" (hebr: Ruhe) anfuhr, wurde es still. Das war vor über
einem Jahr.
Ich erzähle, daß ich in der Potsdamer Straße in einen von
arabisch sprechenden Leuten betriebenen Supermarkt gegangen sei um Satar, ein
Gewürz, das in der palästinensischen Küche verwendet wird, zu kaufen. Im Laden
selber hatte ich Wortfindungsschwierigkeiten. Mir fiel "Satar" partout nicht
mehr ein. Mehrere Mitarbeiter im jungen Erwachsenenalter, die alle ausgezeichnet
deutsch sprachen, bemühten sich freundlich und zuvorkommend um mich. Ich
erklärte also ausführlich, daß es ein Gewürz sei, wie es aussieht, riecht,
schmeckt und was man damit machen kann. Verschiedene Gewürzproben wurden mir
gereicht. Die Geduld und Hilfsbereitschaft der jungen Männer schien schier
unerschöpflich. Nach längerem Hin- und Her fragte einer: "Meinen Sie Satar?".
Ja, genau das war es. "Haben wir, hole ich gleich für Sie. Welche Menge wollen
Sie denn?". Aus den Augenwinkeln hatte ich auf einem unteren Regalbrett einen
anderen Artikel gesehen, der mich interessierte. Ich beugte mich hinunter. Dabei
rutschte mein Davidstern aus dem T-Shirt. In diesem Augenblick war es als ob man
einen Lichtschalter umgelegt hätte. Das Klima wurde eisig. Auf einmal
radebrechten die jungen Männer und waren zu keinem deutschen Wort mehr fühig,
zuckten mit den Schultern und als ich danach fragte, wo denn der oder das Satar
sei zuckten sie verständnislos mit den Schultern, schrien "raus, raus" und
wiesen mit den Fingern zur Tür. Das war meine erste Erfahrung mit arabischem
Antisemitimus in Berlin und die war nicht gestern oder vorgestern, sondern im
Jahr 1994 oder 1995. Aber anscheinend ist der Nahostkonflikt immer auf dem
Höhepunkt. Wahrscheinlich ist auch deshalb arabischer Antisemitismus in Berlin
kein Thema für die Medien.
Am Mittwochabend beginnt Tischa be Aw, ein
Tag, an dem die Juden in der ganzen Welt fasten und sich an die Zerstörung des
ersten und des zweiten Tempels erinnern. Viele andere schlimme Ereignisse sind
für Juden an diesem Tag passiert, ob es die Vertreibungen aus England oder
Frankreich waren oder das Edikt, das die Königin Isabella von Spanien
unterzeichnete und das zur Vertreibung der Juden auf der iberischen Halbinsel
führte. Im Jahr 1671 wurde in Wien die Vertreibung der österreichischen Juden
beschlossen - nach dem jüdischen Kalender fiel auch diese Entscheidung an Tischa
be Aw, und der Große Kurfürst erlaubte einigen dieser jüdischen Familien, wenn
sie ein hohes Grundvermögen nachweisen und zahlreiche Sondersteuern entrichten
konnten, die Einwanderung nach Berlin.
Leider ist es 332 Jahre später in
dieser Stadt immer noch nicht möglich, daß ein Jude unbehelligt - also ganz
normal - einen koscheren Lebensmittelladen führen kann - sowie Angehörige
zahlreicher Nationen ihre Lebensmittelgeschäfte führen, egal ob sie sich auf
Marmeladen aus Brandenburg, portugiesische Weine, italienische Pasta,
französische Käse, holländische Schokoladen oder was auch immer spezialisieren.
Und das wird mir dieses Jahr an Tischa be Aw vermutlich näher sein als die
Zerstörung des ersten und zweiten Tempels.
Israel Deli mußte schließen
Koscher in Berlin
Juden und jüdisches Leben in Berlin
IW /
hagalil.com / 2003-08-06
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