Herr Meyer, wie viel
wog Ihr Vater, als er 1945, nachdem er sich jahrelang als Illegaler in der Zeit
des Holocaust versteckt hatte, wieder auftauchte?
Albert Meyer:
Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber er muss extrem abgedürrt sein. Denn
es gibt noch ein Foto aus dem Jahr 1946 oder 1947, nachdem er sich also schon
einigermaßen erholt hatte, und da sah er noch schlimm aus. Er muss skelettmäßig
wieder aufgetaucht sein.
Ihr Vaters erlebte in
der Nazizeit Berufsverbot als Anwalt, Anklage wegen "Rassenschande",
Zwangsarbeit und Illegalität. Wie hat Sie das geprägt?
Mein Vater war trotz allem immer in
Berlin geblieben. Das habe ich als Kind nicht ganz verstanden, aber er war ein
betonter Berliner. Mein Vater war im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer. Er sagte
immer sarkastisch: "Ich habe mehr Orden als Hitler" (lacht).
Aber es hat ihm wohl nicht viel genutzt. Ich bin in der Berliner Tradition
meines Vaters erzogen worden. Er war auch in der Repräsentantenversammlung, dem
Parlament der Gemeinde, und im Zentralrat der Juden. Das hat mich schon geprägt.
Haben Sie ihm jemals
vorgeworfen, dass er nicht ausgewandert ist?
Es gab schizophrene Situationen. Wir
kamen etwa von einer Reise zurück. Mein Vater hatte die Wohnung malern lassen.
Wegen der frischen Farbe bekamen wir die Tür nicht auf. Ein Nachbar bot an, bei
ihm reinzukommen - da schrie meine Mutter: "Nein, das sind Nazis!"
(lacht) Dabei wollte ich, mit drei, vier Jahren, ganz gern da rüber, denn
der hatte eine elektrische Eisenbahn.
Wollte Ihre Familie nie
raus aus Deutschland?
Meine Eltern haben immer mit dem
Gedanken gespielt, einen zweiten Wohnsitz im Ausland zu haben. Am 13. August
1961 hörte ich morgens um 10 Uhr, wie die Leute auf einem Friedhof, wo wir
gerade waren, tuschelten, dass eine Mauer gebaut würde. Um 14 Uhr wurde ich aus
Berlin ausgeflogen, weil mein Vater schon einmal versäumt hatte, rechtzeitig zu
gehen. Ich bin dann in ein Internat in England gekommen, weil mein Vater
panische Angst hatte, dass seinem Kind Ähnliches wie ihm passieren könnte.
Sie gehören zu den
wenigen Juden in Deutschland, die noch aus einer deutsch-jüdischen Familie der
Vorkriegszeit stammen …
… das kann man sagen …
… wird das
deutsche Judentum wiederkommen?
Nicht in der Form von damals.
Vielleicht wird sich wieder etwas entwickeln, was die geistige Blüte des
Judentums angeht. Wirtschaftlich sind wir wieder genesen, geistig sind wir noch
im Entwicklungsstadium. Da bin ich sehr optimistisch, dass durch die russische
Zuwanderung in kürzester Zeit etwas entsteht. Diese Menschen sind zwar weniger
jüdisch, bringen aber geistiges Potenzial mit. Aber es wird anders sein. Man
kann die Uhr nicht zurückstellen. Und alles am deutschen Judentum war ja nicht
bewundernswert.
Können Sie dafür ein
Beispiel nennen?
Die ungerechtfertigte und bornierte
Einstellung gegenüber den so genannten Ostjuden, die bis in die 30er-Jahre nach
Berlin kamen. Die Berliner Juden haben sich ihnen gegenüber extrem distanziert.
Auch in meiner Familie.
Würden Sie sich selbst
als deutscher Jude bezeichnen?
Ich sehe keine andere Möglichkeit.
Das ist ja für manche
eine Gretchenfrage: Bin ich deutscher Jude oder Jude in Deutschland?
Auch ich hatte gewisse Probleme eine
volle Identifizierung mit diesem Land aufbauen zu können, als ich jung war, was
auch an meiner Umwelt lag. Ich hatte als Kind ein Pferd namens Laila. In einem
Schulaufsatz schrieb ich von Laila. Der Lehrer schrieb dummerweise am Rand:
"Warum kein deutscher Name?" Meine Eltern haben den so etwas von zur Schnecke
gemacht (lacht).
Und heute?
Als ich meinen Beruf als
Rechtsanwaltgewählt habe, war klar: Ich bin integraler Bestandteil dieses
Gesellschaftssystems. Ich bin Deutscher jüdischen Glaubens - auch wenn ich eine
Entwicklungsphase brauchte, um dies so zu sehen.
Die Jüdische Gemeinde
bekommt viel Geld vom Land, gleichzeitig klafft in ihrem 25-Millionen-Euro-Etat
ein großes Loch, ein Defizit von 1,6 Millionen Euro. Woher kommt dieser laxe
Umgang mit dem Geld?
Die Vorstandsmitglieder, außer dem
jetzigen Gemeindevorsitzenden Alexander Brenner, hatten keine Werte mehr, keine
Moral. Es gab Fälle, wo Vorstandsmitglieder die politische Verantwortung hätten
übernehmen müssen. Was haben sie gemacht: Sie haben ein Bauernopfer gemacht,
jemandem gekündigt - das hat die Gemeinde 50.000 Euro gekostet. Wir haben
eigentlich kein finanzielles, wir haben ein Werteproblem. Kriegen wir die Werte
wieder hin, regeln sich auch die Finanzprobleme.
Wie kam es denn zu
diesem Werteverlust?
Ist das nicht allgemein so in der
Gesellschaft?
Aber Sie beklagen dies
vor allem in Ihrer Gemeinde.
Ich kann ja auch nur das
kritisieren, von dem ich Kenntnis habe. Und es ist für mich nicht befriedigend,
wenn mir jemand sagt, wir sind nicht schlechter als die katholische oder
protestantische Kirche. Es gibt keinen Grund, sich am negativen Beispiel zu
orientieren. Wir sollen nicht besser sein, aber wir sollen vorbildhaft in
unserer moralischen Einstellung sein. Wir erwarten ja auch eine gewisse
Rücksichtsnahme seitens der Mehrheitsgesellschaft, was unsere Probleme und
moralischen Ansprüche angeht. Das hatten wir ja, unter dem früheren
Zentralratsvorsitzenden und langjährigen Gemeindechef Heinz Galinski.
Sie haben kritisiert,
dass für das geplante jüdische Pflegeheim allein für die Ausschreibung 1,4
Millionen Euro verpulvert worden seien, ohne dass bisher ein einziger Stein
steht - da wird die Gemeinde nicht Ihren Ansprüchen gerecht.
Ich unterstelle gar nicht, dass sich
jemand bereichert hat. Dass der Architekt das Geld kassiert hat, spricht für ihn
- eigentlich ist er prädestiniert, der Finanzminister der Jüdischen Gemeinde zu
werden. Ich unterstelle auch nicht, dass die zuständige Dezernentin sich
bereichern wollte, ich unterstelle bloß, dass sie doof ist. Sie ließ sich den
Vertrag des Architekten vom Rechtsanwalt des Architekten checken. Das ist
Unwissenheit. Das große Problem ist, dass diese Person kein Unrechtsbewusstsein
hat.
Als wahrscheinlich
kommender Gemeindechef: Welche Chancen haben Sie, die Moral zu heben?
Ich glaube, dass die
Gemeindemitglieder das Bedürfnis haben. Wir haben ja ein klares Votum bekommen
in dieser Hinsicht: Brenner, der integer war, hat zu meiner Freude das beste
persönliche Wahlergebnis erzielt, während die Vorstandsmitglieder, die noch
kandidierten, rausgewählt wurden. Der Wähler hat das miese Spiel durchschaut,
das gegen Brenner lief. Der Wähler hatte ein Bedürfnis nach Stabilität und
Seriosität. Sonst wäre die Wahl nicht so ausgegangen. Ich werde mich nicht
korrumpieren lassen.
In den letzten Tagen gab
es die Meldung, dass Rechtsextreme einen Anschlag auf die Baustelle des
Jüdischen Gemeindezentrums in München verüben wollten. Machen Sie sich Sorgen
über braunen Terrorismus, der sich gegen Juden richtet?
In der Geschichte der Bundesrepublik
und der Weimarer Republik hatten wir immer Rechtsterrorismus, der auch immer
bagatellisiert wurde. Bei der Weimarer Republik wissen Sie, wie das ausging. In
der Bundesrepublik wurde ein System zur Ausschaltung des Linksterrorismus
etabliert - in einer Perfektion, die es wohl kaum in einem anderen Staat gab.
Der Rechtsradikalismus wurde unterschätzt. Auch ich habe ihn unterschätzt. Er
ist eine konkrete Gefahr. Aber ich bin auch ganz sicher, dass wir das in
Deutschland in den Griff bekommen. Wir sind ein demokratisches Land, und ich bin
nicht der Ansicht, dass es hierzulande eine Befürwortung des Rechtsradikalismus
gibt.
Was kann man gegen diese
Extremisten tun - nur noch mehr Aufklärung in Schulen?
Man muss ganz gewiss nicht die
Gesetze ändern. Aber es ist einfach so: Kinder werden nicht rechtsradikal
geboren. Man muss bei der Erziehung einwirken, vom Kindergarten bis zur
Bundeswehr.
Wurde da bisher genug
getan?
In Berlin ja, auch in der
Vergangenheit. Die Stadt hatte ja auch eine Sonderstellung während des
Nationalsozialismus. Es war keine braune Stadt. Es haben hier 800 Juden
versteckt überlebt. Das ist natürlich kein Verhältnis zu den 57.000 Ermordeten.
Übrigens halte ich das Wort "Judenvernichtung" für viel passender als die Worte
"Holocaust" oder "Schoah", die alles viel zu sehr abstrahieren. In zwei
Generationen wird man angesichts dieser Worte vielleicht sagen: "Der Holocaust
hat bei den Eskimos in Grönland stattgefunden." Aber es war ein deutsches
Verbrechen, begangen von Deutschen an ihren deutschen Mitbürgern jüdischen
Glaubens und später am europäischen Judentum.
Wir haben mit Ihrem
Vater begonnen, lassen Sie uns auch mit ihm enden: Wenn er heute das Judentum in
Deutschland sehen könnte - wäre er stolz?
Er hätte wohl Freude daran, dass es
wieder ein jüdisches Leben in der Stadt gibt. Aber er würde wohl darauf
bestehen, dass die Mitglieder alle Deutsch lernen.
Würde er Russisch
lernen?
Das hat er, während seiner Zeit im
Versteck. Er hat "Krieg und Frieden" im Original gelesen. Das hatte auch den
Vorteil, dass er am Kriegsende den russischen Soldaten auf Russisch sagen
konnte, dass er kein Nazi war.
Haben Sie das Buch auch
selbst gelesen?
Ja, faszinierend fand ich vor allem
das letzte Kapitel, wo Tolstoi der Frage nachgeht, ob nicht - im Gegensatz zu
Marx - einzelne Menschen, nicht Strukturen Geschichte machen. Er kam zum
Ergebnis, dass eben Napoleon bis nach Moskau kam.
Werden Sie die
Geschichte der Jüdischen Gemeinde beeinflussen?
Das wäre vermessen, wenn ich mich zu
dieser Frage äußern würde.
taz vom 22.09.2003
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