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"Wir haben ein Werteproblem":
Albert Meyer - die neue Stimme

Seit dem 14. September hat das Judentum in Deutschland eine neue Stimme: Bei den Wahlen zur Repräsentantenversammlung, dem Parlament der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, errang die Liste "Kadima - Vorwärts" zwei Drittel der Stimmen. An ihrer Spitze: der Berliner Notar und Rechtsanwalt Albert Meyer. Sein Vater überlebte die Nazizeit als Illegaler in Berlin. Er selbst wurde kurz nach dem Krieg hier geboren. Am 22. Oktober wird der 56-Jährige aller Voraussicht nach zum neuen Vorsitzenden der größten jüdischen Gemeinde der Bundesrepublik gewählt. Ein Gespräch über Moral, die Orden seines Vaters, die Doofheit mancher Leute und Tolstois "Krieg und Frieden"...

Interview Philipp Gessler

Herr Meyer, wie viel wog Ihr Vater, als er 1945, nachdem er sich jahrelang als Illegaler in der Zeit des Holocaust versteckt hatte, wieder auftauchte?

Albert Meyer: Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber er muss extrem abgedürrt sein. Denn es gibt noch ein Foto aus dem Jahr 1946 oder 1947, nachdem er sich also schon einigermaßen erholt hatte, und da sah er noch schlimm aus. Er muss skelettmäßig wieder aufgetaucht sein.

Ihr Vaters erlebte in der Nazizeit Berufsverbot als Anwalt, Anklage wegen "Rassenschande", Zwangsarbeit und Illegalität. Wie hat Sie das geprägt?

Mein Vater war trotz allem immer in Berlin geblieben. Das habe ich als Kind nicht ganz verstanden, aber er war ein betonter Berliner. Mein Vater war im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer. Er sagte immer sarkastisch: "Ich habe mehr Orden als Hitler" (lacht). Aber es hat ihm wohl nicht viel genutzt. Ich bin in der Berliner Tradition meines Vaters erzogen worden. Er war auch in der Repräsentantenversammlung, dem Parlament der Gemeinde, und im Zentralrat der Juden. Das hat mich schon geprägt.

Haben Sie ihm jemals vorgeworfen, dass er nicht ausgewandert ist?

Es gab schizophrene Situationen. Wir kamen etwa von einer Reise zurück. Mein Vater hatte die Wohnung malern lassen. Wegen der frischen Farbe bekamen wir die Tür nicht auf. Ein Nachbar bot an, bei ihm reinzukommen - da schrie meine Mutter: "Nein, das sind Nazis!" (lacht) Dabei wollte ich, mit drei, vier Jahren, ganz gern da rüber, denn der hatte eine elektrische Eisenbahn.

Wollte Ihre Familie nie raus aus Deutschland?

Meine Eltern haben immer mit dem Gedanken gespielt, einen zweiten Wohnsitz im Ausland zu haben. Am 13. August 1961 hörte ich morgens um 10 Uhr, wie die Leute auf einem Friedhof, wo wir gerade waren, tuschelten, dass eine Mauer gebaut würde. Um 14 Uhr wurde ich aus Berlin ausgeflogen, weil mein Vater schon einmal versäumt hatte, rechtzeitig zu gehen. Ich bin dann in ein Internat in England gekommen, weil mein Vater panische Angst hatte, dass seinem Kind Ähnliches wie ihm passieren könnte.

Sie gehören zu den wenigen Juden in Deutschland, die noch aus einer deutsch-jüdischen Familie der Vorkriegszeit stammen …

… das kann man sagen …

wird das deutsche Judentum wiederkommen?

Nicht in der Form von damals. Vielleicht wird sich wieder etwas entwickeln, was die geistige Blüte des Judentums angeht. Wirtschaftlich sind wir wieder genesen, geistig sind wir noch im Entwicklungsstadium. Da bin ich sehr optimistisch, dass durch die russische Zuwanderung in kürzester Zeit etwas entsteht. Diese Menschen sind zwar weniger jüdisch, bringen aber geistiges Potenzial mit. Aber es wird anders sein. Man kann die Uhr nicht zurückstellen. Und alles am deutschen Judentum war ja nicht bewundernswert.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Die ungerechtfertigte und bornierte Einstellung gegenüber den so genannten Ostjuden, die bis in die 30er-Jahre nach Berlin kamen. Die Berliner Juden haben sich ihnen gegenüber extrem distanziert. Auch in meiner Familie.

Würden Sie sich selbst als deutscher Jude bezeichnen?

Ich sehe keine andere Möglichkeit.

Das ist ja für manche eine Gretchenfrage: Bin ich deutscher Jude oder Jude in Deutschland?

Auch ich hatte gewisse Probleme eine volle Identifizierung mit diesem Land aufbauen zu können, als ich jung war, was auch an meiner Umwelt lag. Ich hatte als Kind ein Pferd namens Laila. In einem Schulaufsatz schrieb ich von Laila. Der Lehrer schrieb dummerweise am Rand: "Warum kein deutscher Name?" Meine Eltern haben den so etwas von zur Schnecke gemacht (lacht).

Und heute?

Als ich meinen Beruf als Rechtsanwaltgewählt habe, war klar: Ich bin integraler Bestandteil dieses Gesellschaftssystems. Ich bin Deutscher jüdischen Glaubens - auch wenn ich eine Entwicklungsphase brauchte, um dies so zu sehen.

Die Jüdische Gemeinde bekommt viel Geld vom Land, gleichzeitig klafft in ihrem 25-Millionen-Euro-Etat ein großes Loch, ein Defizit von 1,6 Millionen Euro. Woher kommt dieser laxe Umgang mit dem Geld?

Die Vorstandsmitglieder, außer dem jetzigen Gemeindevorsitzenden Alexander Brenner, hatten keine Werte mehr, keine Moral. Es gab Fälle, wo Vorstandsmitglieder die politische Verantwortung hätten übernehmen müssen. Was haben sie gemacht: Sie haben ein Bauernopfer gemacht, jemandem gekündigt - das hat die Gemeinde 50.000 Euro gekostet. Wir haben eigentlich kein finanzielles, wir haben ein Werteproblem. Kriegen wir die Werte wieder hin, regeln sich auch die Finanzprobleme.

Wie kam es denn zu diesem Werteverlust?

Ist das nicht allgemein so in der Gesellschaft?

Aber Sie beklagen dies vor allem in Ihrer Gemeinde.

Ich kann ja auch nur das kritisieren, von dem ich Kenntnis habe. Und es ist für mich nicht befriedigend, wenn mir jemand sagt, wir sind nicht schlechter als die katholische oder protestantische Kirche. Es gibt keinen Grund, sich am negativen Beispiel zu orientieren. Wir sollen nicht besser sein, aber wir sollen vorbildhaft in unserer moralischen Einstellung sein. Wir erwarten ja auch eine gewisse Rücksichtsnahme seitens der Mehrheitsgesellschaft, was unsere Probleme und moralischen Ansprüche angeht. Das hatten wir ja, unter dem früheren Zentralratsvorsitzenden und langjährigen Gemeindechef Heinz Galinski.

Sie haben kritisiert, dass für das geplante jüdische Pflegeheim allein für die Ausschreibung 1,4 Millionen Euro verpulvert worden seien, ohne dass bisher ein einziger Stein steht - da wird die Gemeinde nicht Ihren Ansprüchen gerecht.

Ich unterstelle gar nicht, dass sich jemand bereichert hat. Dass der Architekt das Geld kassiert hat, spricht für ihn - eigentlich ist er prädestiniert, der Finanzminister der Jüdischen Gemeinde zu werden. Ich unterstelle auch nicht, dass die zuständige Dezernentin sich bereichern wollte, ich unterstelle bloß, dass sie doof ist. Sie ließ sich den Vertrag des Architekten vom Rechtsanwalt des Architekten checken. Das ist Unwissenheit. Das große Problem ist, dass diese Person kein Unrechtsbewusstsein hat.

Als wahrscheinlich kommender Gemeindechef: Welche Chancen haben Sie, die Moral zu heben?

Ich glaube, dass die Gemeindemitglieder das Bedürfnis haben. Wir haben ja ein klares Votum bekommen in dieser Hinsicht: Brenner, der integer war, hat zu meiner Freude das beste persönliche Wahlergebnis erzielt, während die Vorstandsmitglieder, die noch kandidierten, rausgewählt wurden. Der Wähler hat das miese Spiel durchschaut, das gegen Brenner lief. Der Wähler hatte ein Bedürfnis nach Stabilität und Seriosität. Sonst wäre die Wahl nicht so ausgegangen. Ich werde mich nicht korrumpieren lassen.

In den letzten Tagen gab es die Meldung, dass Rechtsextreme einen Anschlag auf die Baustelle des Jüdischen Gemeindezentrums in München verüben wollten. Machen Sie sich Sorgen über braunen Terrorismus, der sich gegen Juden richtet?

In der Geschichte der Bundesrepublik und der Weimarer Republik hatten wir immer Rechtsterrorismus, der auch immer bagatellisiert wurde. Bei der Weimarer Republik wissen Sie, wie das ausging. In der Bundesrepublik wurde ein System zur Ausschaltung des Linksterrorismus etabliert - in einer Perfektion, die es wohl kaum in einem anderen Staat gab. Der Rechtsradikalismus wurde unterschätzt. Auch ich habe ihn unterschätzt. Er ist eine konkrete Gefahr. Aber ich bin auch ganz sicher, dass wir das in Deutschland in den Griff bekommen. Wir sind ein demokratisches Land, und ich bin nicht der Ansicht, dass es hierzulande eine Befürwortung des Rechtsradikalismus gibt.

Was kann man gegen diese Extremisten tun - nur noch mehr Aufklärung in Schulen?

Man muss ganz gewiss nicht die Gesetze ändern. Aber es ist einfach so: Kinder werden nicht rechtsradikal geboren. Man muss bei der Erziehung einwirken, vom Kindergarten bis zur Bundeswehr.

Wurde da bisher genug getan?

In Berlin ja, auch in der Vergangenheit. Die Stadt hatte ja auch eine Sonderstellung während des Nationalsozialismus. Es war keine braune Stadt. Es haben hier 800 Juden versteckt überlebt. Das ist natürlich kein Verhältnis zu den 57.000 Ermordeten. Übrigens halte ich das Wort "Judenvernichtung" für viel passender als die Worte "Holocaust" oder "Schoah", die alles viel zu sehr abstrahieren. In zwei Generationen wird man angesichts dieser Worte vielleicht sagen: "Der Holocaust hat bei den Eskimos in Grönland stattgefunden." Aber es war ein deutsches Verbrechen, begangen von Deutschen an ihren deutschen Mitbürgern jüdischen Glaubens und später am europäischen Judentum.

Wir haben mit Ihrem Vater begonnen, lassen Sie uns auch mit ihm enden: Wenn er heute das Judentum in Deutschland sehen könnte - wäre er stolz?

Er hätte wohl Freude daran, dass es wieder ein jüdisches Leben in der Stadt gibt. Aber er würde wohl darauf bestehen, dass die Mitglieder alle Deutsch lernen.

Würde er Russisch lernen?

Das hat er, während seiner Zeit im Versteck. Er hat "Krieg und Frieden" im Original gelesen. Das hatte auch den Vorteil, dass er am Kriegsende den russischen Soldaten auf Russisch sagen konnte, dass er kein Nazi war.

Haben Sie das Buch auch selbst gelesen?

Ja, faszinierend fand ich vor allem das letzte Kapitel, wo Tolstoi der Frage nachgeht, ob nicht - im Gegensatz zu Marx - einzelne Menschen, nicht Strukturen Geschichte machen. Er kam zum Ergebnis, dass eben Napoleon bis nach Moskau kam.

Werden Sie die Geschichte der Jüdischen Gemeinde beeinflussen?

Das wäre vermessen, wenn ich mich zu dieser Frage äußern würde.

taz vom 22.09.2003
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IW / hagalil.com / 2003-09-23

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