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Khwod haRaw:
Ein "Offener Brief" 
von Rabbiner Walter Rothschild

Rabbiner Walter Rothschild amtierte von Sommer 1998 bis 31.12.2000 als liberaler Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Seine Kündigung und die damit zusammenhängenden Umstände fanden überregional Beachtung. Das liberale Rabbinat in Berlin ist faktisch geschlossen, denn einen Nachfolger gibt es derzeit nicht.

Wir dokumentieren den offenen Brief von Rabbiner Rothschild an die Repräsentantenversammlung der jüdischen Gemeinde zu Berlin. Die Repräsentantenversammlung ist das von den Gemeindemitgliedern alle vier Jahre gewählte Entscheidungsgremium. Um der besseren Verständlichkeit willen hat die Redaktion erklärende Anmerkungen kursiv in Klammern gesetzt eingefügt.

Offener Brief

Weil dies meine letzte Gelegenheit ist, hier als Rabbiner teilzunehmen, möchte ich gerne einen offenen und formellen Abschied nehmen. Es gibt sogar positive wie auch negative Gedanken. Auf der einen Seite möchte ich mich bedanken, für die Gelegenheit hier als Rabbiner zu arbeiten - wirklich eine der interessantesten Gemeinden der Welt. Andererseits werde ich doch ein bißchen Kritik (konstruktive Kritik) üben.

Im vorletzten Protokoll (Oktobersitzung) habe ich gelesen (Seite 2) - „Meir Piotrkowski und Dr. Andreas Nachama informieren die Anwesenden, daß die Jüdische Gemeinde sich von Kantor Heller trennen mußte". Nur zwei Zeilen. Keine Information, keine Diskussion. Ich bin sicher, daß wenn ich selbst nichts fürs Protokoll vorbereiten werde, genau das selbe über mich erscheinen wird. Nach zweieinhalb Jahren Arbeit wird knapp zu lesen sein - „Rabbiner Rothschild mußte weg".
Und das will ich so nicht haben. Wenn nötig, muß ich für mich selbst eine „JadWaSchem" tun. Ein Zeichen. Eine Gedenkrede. Einen Nachruf.

Ich habe mehrmals versucht, den Dialog mit dieser Repräsentanz zu beginnen. Schriftlich oder mit einzelnen Repräsentanten. Vergeblich. Im Protokoll der Novembersitzung lese ich auf Seite 9: „Artur Süsskind entgegnet: ... Im übrigen sieht er sich nicht als Stimmvieh, das den Anträgen des Vorstandes widerspruchs- und bedingungslos zustimmen müsse". Mein Eindruck leider ist, daß in meinem Fall und im Falle des liberalen Gemeinderabbinats überhaupt dies die Situation gewesen ist".

Deswegen ist das, was ich hier heute sagen möchte - als Abschiedsgruß - mehr „für das Protokoll" als in Hoffnung auf eine angemessene Reaktion. Und dennoch möchte und muß ich optimistisch bleiben.

Vor einigen Tagen habe ich den Film „Kindertransport" gesehen - und eines der Kinder hat im Interview etwas in der Art formuliert „der Chef hat meinem Vater gesagt, er müsse gehen - nicht, weil er seinen Job nicht gut genug gemacht habe, sondern, weil der neuen Regierung sein Gesicht nicht mehr paßte". Ich muß sagen, ich fühle mich von dieser Gemeinde „wie ein Jude" behandelt. Und das ist eine Schande. Keiner hat irgendwelche richtige oder relevante Kritik an meiner rabbinischen Arbeit und Tätigkeit geübt - zumindest nicht in den vergangenen zwei Jahren ! Jeder weiß, was für ein „Mobbing" hier stattgefunden hat. Und jeder weiß, es geht hier um rein persönliche Auseinandersetzung zwischen Rabbiner und Kultusdezernenten, um einen Kultusdezernenten, der seit 13 Monaten kein Wort mit dem Rabbiner gewechselt hat - und ich habe sogar mit fast allen Mitgliedern der Repräsentantenversammlung zwischen März und Mai diesen Jahres persönlich gesprochen - und einigen gesagt oder sogar gezeigt, was die wahren Probleme sind - und trotzdem sagt und unternimmt keiner etwas. Es fehlt allen an der berühmten „Zivilcourage". Das ist merkwürdig. Und traurig.

Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen irgendwann in den letzten Monaten eine Synagoge besucht haben - außer an den Hohen Feiertagen oder einer Bar-Mizwah. Ich möchte Sie nicht beschämen und auch nicht bitten, Ihre Hand zu heben. Ich kann nur sagen, ich habe in dieser Stadt fünf Synagogen regelmäßig gedient - bei vielleicht drei oder vier Ausnahmen habe ich fast nie einen Repräsentanten gesehen. Und doch - Sie vertreten hier die ganze Gemeinde. Sie entscheiden, was in den Synagogen stattfinden soll und wer dort amtieren darf. Ohne die Beter zu sehen oder sie nach deren Meinung zu fragen. Sie lassen zu, daß der Kultusausschuß seit Monaten nicht tagt - weil Religion wahrscheinlich nicht das Hauptinteresse dieser Gemeinde ist.

Sie haben die Aufgabe, sogar die Pflicht, eine Kontrollfunktion auszuüben, damit keine kleinen persönlichen Streitigkeiten zu weit gehen, und so der Gemeinde schaden. Das haben Sie nicht getan.

Und die ganze Jüdische Welt weiß es. Sie verstehen vielleicht nicht, wie sehr die Geschichte der letzten Jahre die Welt umkreist hat. Dank sei Email und Internet. Nur zwei Beispiele: Rabbiner Rich Block der WUPJ (World Union for Progressive Judaism) hat mir eine Email folgenden Wortlauts zukommen lassen „I admire the way you continue to tolerate impossible situations". Rabbiner Eric Wisnia aus Princeton - etwas drastischer - „Wally, I don`t understand why you put up with all that shit". Ich bin vor sechs Wochen zu einer Rabbinertagung gefahren - Vertreter der Amerikanischen Conservative, Reform und Reconstructionist Bewegungen. Ein „Mifgasch Harabbanim". Jeder wußte schon, was in Berlin passiert ist. Daß in Berlin das Wort „Vertrag" keine Bedeutung hat. Daß in Berlin keine Rabbinerstelle sicher ist. Das haben sie nicht etwa über meine Emails erfahren, sondern durch „Ma’ ariv online", durch die „Jerusalem Post" und natürlich auch durch die sogenannte „Rabbinic Grapevine".

Sie sollten wissen - ich habe schon viele Jahre Erfahrung mit schlechter Behandlung, Beleidigung und Demütigung meiner Person. Elf Jahre lang habe ich in Leeds amtiert. Leeds war den Reformrabbiner die Hölle. Zirka 11 000 Juden - so ungefähr wie hier - und sechs Synagogen. Eine richtig Orthodox und eine Reform und vier - nun, ja - „traditionell aber nicht sehr fromm". Viele Parallelen also mit Berlin. Dort wurde der Reformrabbiner als „kein Rabbiner" behandelt, er wurde zu großen Veranstaltungen nicht eingeladen, er wurde in öffentlichen Sitzungen des „Leeds Jewish Representative Council" beleidigt, seine Synagoge war nie koscher genug, um für die Gemeindeaktivitäten die Räumlichkeiten zu stellen. Unsere Kinder waren bei Makkabi nicht willkommen, wir durften die Mikwe und den orthodoxen Friedhof nicht benutzen, unsere Übertritte wurden nicht in der jüdischen Schule anerkannt. Ich mußte mich dafür einsetzen, dafür kämpfen, das habe ich getan und mit ziemlich großem Erfolg. Also - ich bin es gewohnt, habe eine dicke Haut und kann viel vertragen, viel dulden. Vielleicht zu viel.

Aber hier, in einer sogenannten Einheitsgemeinde hatte ich so etwas nicht erwartet. Die Welt hat gesehen - nicht nur, was mit mir persönlich geschehen, sondern was mit dem „liberalen Judentum" passiert ist. Daß man das liberale Rabbinat einfach kurzfristig und ersatzlos schließen kann. Daß man jemanden zum „liberalen Rabbiner" ernennen kann, der keine anerkannte liberale Smicha (Rabbinerordination) besitzt, keine Erfahrung mit liberalem Judentum und keinem Kontakt zu liberalen Kollegen oder dem Bet Din und so weiter hat.

(Gemeint ist ein Rabbiner mit orthodoxer Semicha, der an einer konservativen Synagoge amtierte bevor er nun jetzt für die liberale Synagoge zuständig ist.)

Würde man so mit einem orthodoxen Rabbiner verfahren??? Ich glaube nicht. Es gibt keine Kritik an einem orthodoxen Rabbiner, der orthodox ist - nur an einem liberalen Rabbiner, weil er „liberal" ist. Ein hochinteressantes Beispiel für religiöse Diskriminierung. Liberales Judentum ist mehr als eine einzige Synagoge in Charlottenburg - es ist eine weltweite Bewegung mit Seminaren mit Rabbinerkonferenzen, Batei-Din (Rabbinatsgerichten), Verlagshäusern usw. Ein liberaler Gemeiderabbiner sollte in der Lage sein, diese Gemeinde in dieser Welt zu vertreten.

Der Liberale Rabbiner wurde jedoch nicht eingeladen, oder es wurde ihm nicht gestattet, bei Friedensveranstaltungen zu reden, bei Gedenkfeiern und Gemeindeveranstaltungen zu reden - es ist eine Beleidigung des Liberalen Judentums, nicht nur des liberalen Rabbiners. Jeder merkt es, innerhalb und außerhalb Berlins. Und wer ist verantwortlich für all das hier? Die Repräsentantenversammlung.

Man hat hier ein „mieses Spiel" gespielt. (So hat das Dr. Brenner formuliert). Ich bin nur ein Amateur, habe vielleicht ein paar taktische Fehler gemacht und dieses politische Spiel habe ich anscheinend verloren. Zum Abschied wollte ich nur sagen - auch Sie haben verloren. Das Judentum in Deutschland hat verloren. Deutschsprachige Rabbiner werden nicht hierher kommen: (Ich weiß - Dr. Nachama hat schon versucht, Rabbiner aus den USA herzulocken - vergeblich. Ich habe auch viele Kontakte). Für mich war dies alles kein Spiel. Es gibt hier so viel zu tun. So viele Juden, die so viel Hilfe brauchen. Messianische Juden haben in Neukölln das Sukkotfest gefeiert. Jetzt suchen sie Eingang in die Jüdische Oberschule, Eltern berichten mir von ihren Sorgen. Aber welcher Rabbiner wird dort sein, sich dem entgegenzustellen? Chabad baut sein eigenes Imperium auf, die Lauderstiftung definiert jetzt, wer für die Orthodoxie Jude ist ( und keiner hat daran gedacht, den liberalen Gemeinderabbiner in die Kommission einzuladen, eine Kommission die Liberale Übertritte definieren soll. Auch interessant). Und die Liberalen? Oder eigentlich alle, die nicht orthodox sind? Sie haben jetzt keine Stimme, keinen spirituellen Führer mehr.

Für mich - ja, ich weiß: ich habe dieses „miese Spiel" verloren. Ich bin Rabbiner, kein Politiker oder Diplomat. Ich habe meinen Dienst getan, sogar viel mehr als nur meinen Dienst und habe ein reines Gewissen - aber das Spiel habe ich verloren. Was ist in den dreißiger Jahren passiert? Die Juden damals mußten ihre Stellen verlassen, ihre Kinder aus den Schulen nehmen, ihre Wohnungen verlassen, ihre Sachen packen und eine neue Zukunft suchen. Irgendwo anders. Nicht, weil sie etwas Schlimmes oder Kriminelles getan hatten... Nur, weil ihre Gesichter anderen nicht mehr paßten. Weil die Machthaber sie nicht mehr in ihrer Stadt haben wollten.
Sie können hier bleiben, auch nach der Wahl. Ich aber muß weg. Das heißt - ich bin der Jude. Und trotzdem bin ich stolz darauf.

Und solange Sie, die Verantwortlichen, nicht irgendwann begriffen haben, daß auch Sie verloren haben - sehe ich persönlich keine Hoffnung hier. Nicht für diese sogenannte „Einheitsgemeinde".
Und wenn diese Einheitsgemeinde innerhalb der nächsten drei oder vier Jahre sich spaltet und zugrunde geht - will ich es einfach „on the record", also schwarz auf weiß haben - meine Schuld war es nicht. Ich war bereit, mit allen zu arbeiten. Ich habe es getan. So weit und so viel ich konnte. Für diese Gelegenheit und für all das, was ich gelernt habe, bin ich noch dankbar. Ich bleibe noch immer zur Verfügung, wenn ich noch etwas Hilfe anbieten kann. (Es steht sogar in der Vereinbarung, ich dürfe auf Honorarbasis noch weiter amtieren, wenn gewünscht. Dort steht zwar auch, daß der Gemeindevorstand dies dann in jedem Falle genehmigen müsse, aber der Personaldezernent hat bereits einen Brief an den Vorstand der Synagoge Oranienburger Strasse verfasst, in dem er sagt, er werde das nie genehmigen - ein interessantes Beispiel für die Zusammenarbeit und Fairness). Aber, wie schon gesagt, bin ich als Profi bereit, persönliche Gefühle und Verletzungen beiseite zu stellen und meine Hilfe der Gemeinde anzubieten. Für die Zukunft aber kann ich nur sagen - es ist jetzt Ihre Zukunft. Sie, als Repräsentanten, haben die Verantwortung. Sie müssen sie endlich tragen.

Nichts für Ungut. Schalom
Rabbiner Walter Rothschild
am 13. Dezember 2000

Interview mit Rabbi Rothschild
zum Dienstbeginn in Berlin
Rabbiner in Berlin
Jüdisches Leben in Berlin

 

 


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