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Ein Dialog zwischen Juden und Muslimen in Berlin:
Begegnungen zwischen Ramadan und Chanukka

Wie ich Chanukka entdeckt habe oder: Vom Sinn der Feiertagsordnungen

Von Irene Runge

Beim besten Willen – ich habe keine Erinnerung, ob und was meine Familie damals im New Yorker Exil feierte. Ich kann mir ausdenken, dass die Großmutter mich zu Chanukka beschenkt haben könnte, der Vater alle derartigen Feste verleugnete (später, in der DDR, saß man in den ersten Jahren am 1. und 8. Mai zusammen, zu den schulfreien Feiertagen wurde mit viel Büchern und Arbeit verreist).

Zurück nach Amerika: Ich sehe mich auf Straßen, wo ich glitzernde Lichterketten und schlittschuhfahrende Menschen bewundere. Ich muss mir die Nase an Schaufenstern mit Weihnachtsdekoration plattgedrückt haben.

Dann die DDR: Man wollte das Kind wie andere Kinder leben lassen, aber wusste wohl nicht genau, was das bedeutete. Also fiel meinem Vater am 24. Dezember ein – d.h., wenn wir nicht in irgendein für mich ödes, weil kinderfreies Komponisten- oder Schriftstellerheim verreist waren - dass der Baum und ein Geschenk nötig seien, also rannte ich los, kaufte den letzten der schäbigen Bäume, steckte das Restgeld in meine Tasche und dann wurden mir eilig meine Bücher gegeben. Alte Wunschzettel von mir verraten allerlei über das, was ich auch noch gern gehabt hätte.

Der Vater saß nach dem Abendessen, das wie üblich in drei Gängen ablief, an seinen Büchern. Ich las oder langweilte mich. Seine zweite Frau war vermutlich deprimiert. Eine Erinnerung ist geblieben: Als meine Mutter starb, es war der 21. Dezember 1951, Stalins letzter Geburtstag, Gäste waren gekommen, da lagen Kasperlepuppen für mich im Schrank. Ich hatte sie entdeckt, niemand sonst wusste nach ihrem Tod davon. Man hatte mich zu Freunden gebracht. Mein Geschenk dort war eine große Kiste mit Apfelsinen und ähnlichem, damals vermutlich ein Vermögen wert (wir schreiben das Jahr 1951). Ich war tieftraurig. Die Puppen nahm ich mir später aus dem Schrank.

Spaß hatte ich an den Weihnachtstagen wohl nie, kein Wunder, dass ich mich schwer mit dem Ritual tat und im eigenen Erwachsenenalter mangels innerer Beteiligung an der Freude scheiterte. Es gab Jahre, da musste ich am 24.12. im Rundfunk wie vorher bei ADN arbeiten – ich erinnere mich: Der Grund war, dass ich dort offenbar die kulturell "Fremde" war, jemand, für den dieser Tag keinen Wert hat. Bis vor einigen Tagen hatte ich diesen Teil der Episode verdrängt.

Weihnachten kannte ich aus dem Kino und von den Erzählungen anderer, auch war ich einige Male eingeladen, doch ich konnte mich im Ritual der anderen nicht entdecken. Sie mögen leuchtende Kinderaugen und Familienglück antizipiert haben. Über Enttäuschungen, die wohl eine Konsequenz aus übersteigerten emotionalen Erwartungen sind, war kaum je die Rede. Der Kaufrausch hat inzwischen die Gewichtung verschoben. Die Fehlkäufe lassen sich durch Umtausch ungeschehen machen, die falsche Hoffnungen nicht. Aber auch ich suchte nach jener Geborgenheit, von der ich nicht wusste, woher ich sie beziehen könnte.

Irgendwann in den frühen Siebzigern war es soweit. Bettina Simon s.A. und Salomea Genin fragten mich unabhängig und aus verschiedenen Gründen, warum ich nicht zum Chanukkaball käme; sie könnten mir eine Karte besorgen. Ich wusste nicht, was das ist, wusste nur, dass ich vermutlich keine Kleidung hätte, versteckte meine Unsicherheit und dacht wohl bei mir: Ein Ball! Wie absurd und bürgerlich!

Ein Jahr später wollte ich mitgehen. Diesmal war es Hermann Simon, der mir die Tür öffnete, allerdings hat auch er mich mit dem Symbol des Lichts nicht vertraut gemacht. Ich hatte schon Kulturnachmittage im Ostberliner jüdischen Gemeindesaal verbracht, und obgleich ich mich gern als ein Familienmitglied der hier Anwesenden gefühlt hätte, kam ich mir fremd vor. Das hatte mit meinen falschen Erwartungen zu tun, denn bis dahin waren Juden Intellektuelle und Emigranten, Widerstandskämpfer, streitbare Gesellen gewesen. Die Gemeinde bot ein kleinbürgerliches Bild. So hatte ich mir die Entdeckung meiner Identität nicht vorgestellt. Aber als ich auf Berta Waterstradt und andere mir bekannte Gesichter stieß, da änderte sich dies schlagartig.

Chanukka in den 70er Jahren in Ostberlin

Die Karten waren ein Thema, es wurde gemunkelt und geredet, man erhielt mit der Karte seine Platzzuweisung. Der Eintritt lag bei 12 oder 15 Mark einschließlich einer fischigen oder fleischigen kalten Platte. Mein erster und die weiteren Chanukkabbälle fanden im Restaurant Moskau in der Karl-Marx-Allee statt. Ein erster Eindruck ist mir geblieben: Die Kapelle Jerry (?) Fish aus Prag spielte, was ich für einen besonderen Fischzug des Vorsitzenden hielt, aber es war nur Zufall, die Musiker waren im Dezember am Haus engagiert.

Man kam in ordentlicher Kleidung, nicht wie zum Ball, eher wie zum Konzertbesuch, kannte sich, grüßte, meckerte über die zugewiesenen Plätze, die besten gingen an die Besten, und ich saß als „Neue" ziemlich weit hinten, wo nichts zu sehen, aber fast alles zu hören war. Ich setzte mich an einen Tisch zu einem Ehepaar, dass mir damals uralt erschien: Prof. Nathan Steinberger und Frau. Dann kamen die Moteks, ihre Freunde, und ich war verblüfft. Prof. Hans Motek? Deutsche Wirtschaftsgeschichte? Darin hatte ich gerade herumgelesen, das war Pflichtlektüre an der Humboldt Uni, Wirtschaftswissenschaften. Und Steinberger? Gehörte er nicht nach Karlshorst zu den dortigen Ökonomen?. Und hier zu Chanukka - die Genossen kannten alle Lieder und alle Bräuche. Das war mir neu. Auf jenem Fest traf ich viele Freunde und Bekannte. Es gefiel mir, von Tisch zu Tisch zu gehen und dabei einen Teil des "jüdischen Berlins" zu entdecken.

Damals hörte ich zum ersten Mal wie es ist, wenn Estrongo Nachama den rituellen Teil bis zu den Capri-Fischern mit kraftvoller Stimme vorträgt, wie er die Hora siongend anführte, wie wir alle nach vorn rannten und uns im Kreis wiederfanden. Ich war begeistert. Das also nannte man Chanukka, und für mich war klar, dass ich dieses Fest ab jetzt immer wieder feiern würde.

Damals wusste ich eigentlich nicht, warum gefeiert wird. Ich hätte es nachlesen können, aber soweit war ich noch nicht. Dabei wäre es ein leichtes gewesen herauszufinden, dass Chanukka ein historisches und kein biblisches Fest ist, dass sich Bräuche aus der Geschichte selbst erklären lassen, aus dem Sieg der Makkabäer über ihre Feinde, der Befreiung und Reinigung des Tempels, wo das Öl nur für einige Stunden reichen würde, und dann doch – ein Wunder, ein Wunder – acht lange Tage leuchtete, bis neues Öl herangeschafft war. Öl führte zu Ölgebackenem, Licht zu Licht, da ist es nahe, das die Helligkeit auch geistige Helligkeit meint, auch Öffnung der dunklen Tore, es liegt viel Symbolkraft in beidem, Im Treidel-Spiel geht es ums Gewinnen von Nüssen, Schokoladen- und anderes Geld werden verschenkt, warum – das werde ich in diesem Jahr erfragen. Was also ist Chanukka? Es ist eine Vorgabe, eine Aufforderung, eine Chance vor allem, spielend und tanzend, essend und trinkend, niemals zu vergessen, wie eine uralte Gegenwart zu unserer vergangenen Geschichte geworden ist, und dass diese nur durch uns in unserer Gegenwart in die Zukunft greifen kann. Die Rituale befestigen die Erinnerung, die Lieder vereinen uns zu einem Chor, die Tänze lassen und fühlen, wie nah wir einander sein können.

Noch ein Satz: Als wir den JKV 1989/90 gründeten, waren das Erfahren, die Weitergabe und damit der Erhalt unserer Feiertage als Teil der Traditionen, die unsere Generation niemals besessen hatte, eine der ersten Überlegungen. Chanukka gehörte dazu. Vor allem ich erinnerte mich an die Bälle der Ostberliner Gemeinde. Ganz so sollte es nicht sein, aber ich kannte nichts anderes, die anderen auch nicht. So begannen wir vorsichtig und dank der Hilfe unseres Chabadniks Rabbiner Herschel Glück aus London den Ablauf zu "demokratisieren", keine Tischkarten, jüdische Musikanten und ein milchiges Buffet (kosher Style) anstelle der Bedienung.

Heute ist Chanukka mein Lieblingsfest. Ich habe eine große "Chanukkafamilie" gewonnen und kann die Geschichte des Chanukkalichts vielschichtig deuten. Für viele von uns ist damit die Weisheit der Väter (und Mütter) zur Verpflichtung geworden, das Erbe nicht aufzugeben.

Fastenbrechen nach dem Ramadan
Fotos von Metin Yilmaz
Als Jude im muslimischen Umfeld der atheistischen Sowjetunion
Ramadan in Eskisehir und im deutschen Dorf

Zum Weiterlesen:
Juden und Muslime: Der Mythos einer interreligiösen Utopie

von Mark R. Cohen
Von Berlin nach Baku
von Igor Chalmiev

Begegnungen zwischen Ramadan und Chanukka (Startseite)
Jüdischer Kulturverein Berlin
Jüdisches Leben in Berlin (Startseite)

hagalil.com 16-12-03


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