Jubiläum des Zemtrums
für Antisemitismusforschung:
"Antisemitismus ist Teil dieser
Kultur"
Gestern feierte das
Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung sein 20-jähriges Jubiläum.
Julius Schoeps, Leiter des Moses Mendelssohn Zentrums für
europäisch-jüdische Studien in Potsdam, gratuliert den Berliner Kollegen
- und fragt sich, was die Mühe im Kampf gegen Vorurteile überhaupt
bringt
Interview von Philipp
Gessler
taz: Professor
Schoeps, in diese Woche fielen zwei Entwicklungen, die unserer Meinung
nach etwas miteinander zu tun haben: Jürgen W. Möllemanns politische
Karriere scheint mit der Affäre um sein antiisraelisches Faltblatt
endgültig beendet ...
Julius Schoeps:
Wahrscheinlich.
Zugleich feiert das
Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung sein zwanzigjähriges
Jubiläum. Zunächst zu Möllemann: Knallten bei Ihnen zu Hause die
Champagnerkorken, als Sie die Meldung von seinem Rückzug aus allen
Spitzenämtern erreichte?
Nein, es ist nur das
geschehen, was schon längst fällig war. Dieser Rücktritt von allen
Ämtern hätte schon längst geschehen müssen. Es ist ein Problem der
gegenwärtigen FDP-Führung unter Guido Westerwelle, dass sie
vergleichsweise spät erst die Notbremse gezogen hat. Das hat der Partei
geschadet, vielleicht sogar der politischen Kultur dieses Landes.
Ist mit dem Weggang
Möllemanns der Versuch gescheitert, in Deutschland mit Antisemitismus
Wählerstimmen zu gewinnen?
Das sehe ich nicht so.
Antisemitische Äußerungen haben wir nicht nur von Jürgen W. Möllemann
gehört, sondern von Politikern aller Parteien in den letzten Jahren. Das
ist ja nichts Neues.
Zum Beispiel?
Na, etwa wenn ein
CSU-Abgeordneter erklärt, Juden meldeten sich immer dann zu Wort, wenn
das Geld in den Kassen klingelt - und Ähnliches mehr.
Was folgern Sie
daraus?
Dass der Antisemitismus
ein Bestandteil dieser Kultur ist. Das Problem ist, dass in bestimmten
Situationen antijüdische Bildvorstellungen aufbrechen und manifest
werden.
Was sind das für
Situationen?
In der Regel sind es
Medienereignisse - wenn zum Beispiel Daniel J. Goldhagen ein Buch
veröffentlicht über den Vatikan und die Juden in der NS-Zeit, dann
bricht es plötzlich auf. Es kommen sattsam bekannte Vorurteilsbilder
wieder hoch. Ich habe zahlreiche antisemitische Anrufe und Briefe
erhalten, als Möllemann sich antisemitisch äußerte. Da rief zum Beispiel
jemand aus einer Kleinstadt im Rheinland an und fragte, warum ich
Möllemann kritisiere? Er, der Anrufer, sei kein Antisemit, aber er möge
keine Juden.
Da ist man sprachlos.
Ja. (lacht) Das ist die
neue Unbefangenheit.
Was verstehen Sie
unter "neuer Unbefangenheit"?
Das Problem bei dieser
Affäre war, dass dieses Mal nicht vom rechten Rand agitiert, sondern aus
dem Zentrum der demokratischen Parteienlandschaft heraus so etwas
artikuliert wurde. Das ist neu. Hier wurde auf der populistischen
Schiene versucht, in rechten, in trüben Gewässern zu fischen. Es ist
missglückt, Gott sei dank. Aber ich halte allein den Versuch für
gefährlich.
Ist der Antisemitismus
in der Gesellschaft durch die Affäre stärker geworden?
Was heißt stärker? Er
ist, wie gesagt, Bestandteil der gesellschaftlichen Kultur. Wenn Sie den
Antisemitismus streichen, zum Beispiel aus kirchlichen Dokumenten, aus
dem Liedgut, aus den Gedichten, dann ist fraglich, ob das, was übrig
bleibt, noch Christentum oder deutsche Kultur ist.
Es hat Monate
gedauert, bis der Bundestag etwas zum Antisemitismus gesagt hat
und es war ein Gefasel
schlimmster Sorte.
zu einer gemeinsamen
Resolution fanden die Fraktionen nicht zusammen. Zudem wurde das Thema
erst nach den Sperrzeiten für Gaststätten im Plenum behandelt - ist das
bezeichnend?
Die Resolutionen spielten
überhaupt keine Rolle. Es interessierte ja auch niemanden. Es hat auch
kaum jemand zur Kenntnis genommen.
Heißt das, dass der
Antisemitismus in Deutschland immer noch ein verdrängtes Problem ist?
Er ist nach wie vor
existent. Sich antisemitisch zu äußern, gilt zur Zeit als unfein. Man
outet sich nicht als Antisemit. Aber ich schließe nicht aus, dass das
morgen anders ist. Möllemann ist ein gutes Beispiel dafür, was da alles
möglich ist.
Was macht den
Antisemitismus so hartnäckig?
Er ist, wie gesagt,
Bestandteil dieser Kultur. Antisemitische Bilder werden vererbt - nicht
genetisch, aber über die Kultur, über die Familie, über die Sprache.
Etwa bei Wilhelm Busch: "Kurz die Hose, lang der Rock, / krumm die Nase
und der Stock, / Augen schwarz und Seele grau, / Hut nach hinten, Miene
schlau -/ So ist Schmulchen Schievelbeiner. / (Schöner ist doch
unsereiner)." Das ist klassischer Antisemitismus. So was kann man in
Fibeln lesen. Das prägt Bewusstsein, und vielleicht sogar das Handeln
der Menschen. Das soll man nicht unterschätzen. Mein Problem ist: Soll
man das ändern? Kann man etwa die antisemitischen Passagen bei Wilhelm
Busch streichen?
Kann man nicht.
Ja, das ist die Frage.
Kann man die antijüdischen Stellen im Neuen Testament streichen - 450
Stellen, wie Goldhagen herausgefunden hat? Geht das? Ich halte das für
nicht machbar. Es sind historische Texte. Ich verfälsche sie, wenn ich
da etwas streiche. Darüber muss man deshalb diskutieren: Wie gehen wir
mit ihnen um?
Man traut sich ja gar
nicht mehr zu fragen: Was kann man gegen Antisemitismus tun?
Ich halte den
Antisemitismus nur bedingt für bekämpfbar. Jeder weiß, dass der
Aufklärung Grenzen gesetzt sind und die Menschen häufig nicht
vernunftgemäß handeln. Wir leben alle mit der Fiktion, dass wir
vernünftig handeln - aber ich habe da so meine Zweifel.
Ist das nicht
frustrierend für Ihre Arbeit?
Diese Frage stelle ich
mir jeden Tag. Ich weiß keine bessere Möglichkeit, als darüber zu reden
und zu forschen. Mir fällt nichts Besseres ein als aufzuklären. Aber ich
weiß um die Grenzen dessen, was ich da predige.
Anderswo konnten doch
auch Vorurteile abgebaut werden: Italiener nennt heute kaum noch jemand
"Spaghettifresser".
Heute ist der Italiener
ersetzt durch den Türken - wobei wir hier das Problem haben, dass die
christliche Welt Schwierigkeiten mit den Muslimen hat. Die Italiener
allerdings gehörten zur christlichen Welt. Das war und ist etwas
anderes.
Ist das übertragbar
auf den Antisemitismus: Ist sein Kern weiter die Religion?
Natürlich. Es ist das
religiöse Vorurteil, wobei sich dieses Vorurteil verselbstständigt hat.
Es ist freischwebend, wie die Soziologen sagen. Es kann sich verbinden
mit Nationalismus. Man kann etwas gegen Vorurteile tun. Aber das setzt
ein radikales Umdenken voraus, in der Schule, am Arbeitsplatz. Jeder
Psychoanalytiker weiß allerdings, dass ein Mensch nur sehr schwer von
seinen Vorurteilen zu befreien ist. Denn er fühlt sich wohl mit ihnen.
Es gibt also keinen Grund, sich von seinen Vorurteilen zu trennen.
Beim Zentrum für
Antisemitismusforschung geht die Forschung zur NS-Zeit zugunsten
aktueller Themen zurück.
Zum Nationalsozialismus
ist ja auch schon fast alles gesagt worden. Nur die Motive der Täter -
das ist die Frage: Wieso kommt es, dass ist im Zentrum des christlichen
Mitteleuropas die Shoah möglich war? Das ist die zentrale Frage, auf die
wir bis heute keine Antwort gefunden haben.
Weil es um die eigenen
Väter und Großväter geht?
Weil es in eine Richtung
geht, wo niemand wagt, Fragen zu stellen. Die ganze Hitlerei hatte
nämlich einen zutiefst religiösen Kern. Wenn wir uns mit diesem Kern
beschäftigen, kommen wir schnell dazu, dass es um die
antijüdisch-christlichen Bilder geht, die von den Nazis verinnerlicht
wurden. Hitlers "Mein Kampf" hat auch mit dem Christentum zu tun.
Wenn der
Antisemitismus so sehr Teil unserer Kultur ist, was kann man dann tun?
Ich plädiere für einen
funktionierenden Rechtsstaat. Der Mensch muss in gewisser Weise vor sich
und seinen Gefährdungen geschützt werden.
Nach Jahrzehnten
Aufklärung zur Nazizeit und Forschung zum Antisemitismus - glauben Sie,
dass sich die heutigen Deutschen in der NS-Zeit anders verhalten hätten?
Vielleicht. Aber es würde
mich sehr wundern.
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25-10-02
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