Stichwort:
Hochschule für die Wissenschaft des Judentumsin Berlin, 1870 als selbständige, von Staats-,
Gemeinde- und Synagogenbehörden unabhängige Lehranstalt zum Zwecke der
Erhaltung, Fortbildung und Verbreitung der
Wissenschaft des Judentums
gegründet und am 6. Mai 1872 eröffnet; sie führte von 1883 - 1922 den
Namen: Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums.
Die Gründung der Hochschule wurde durch Moritz Lazarus
angeregt und durch die Unterstützung des Berliner Stadtrats Moritz Meyer
ermöglicht. Die Hochschule sollte die unparteiische, an keine
religiöse Richtung gebundene wissenschaftliche Forschung und Lehre
zur Grundlage haben, das Gesamtgebiet der Wissenschaft des Judentums
behandeln und allen Studierenden ohne Unterschied des Glaubens und der
Fakultät zugänglich sein. Die wissenschaftliche Ausbildung von Rabbinern
und Religionslehrern, zunächst nur eine ihrer Aufgaben, wurde in der
Folge immer mehr zur Hauptsache; doch besteht auch heute noch die
Möglichkeit, eine rein wissenschaftliche Abschlußprüfung ohne
praktisches Ziel abzulegen.
Die Hochschule wird außer durch Zinsen von Stiftungen
durch Jahresbeiträge erhalten. Anhänger und Freunde der Hochschule
bilden einen Verein, dessen Generalversammlung das Kuratorium der
Lehranstalt einsetzt und Richtlinien für die Verwaltung vorschreibt; das
Kuratorium wählt seinerseits die Dozenten, die sich verpflichten müssen,
ihre Lehrtätigkeit lediglich im Interesse der Wissenschaft des Judentums
auszuüben, und die Dozenten jährlich aus ihrer Mitte einen Vorsitzenden.
Das erste Lehrerkollegium bildeten: David Cassel,
Abraham Geiger, Israel Lewy, Chajim Steinthal. Spätere Dozenten waren:
Pinkus Fritz Frankl, Sigmund Maybaum, Joel Müller, Martin Schreiner,
Eduard Baneth sowie Eugen Täubler und Abraham Schalom Yahuda, die
nachher anderwärts lehrten. Dem gegenwärtigen (1931) Dozentenkollegium
gehören an: Chanoch Albeck,
Leo Baeck, Ismar Elbogen, Julius Guttmann und Herry Torczyner, als
außerordentliche Dozenten Ismar Freund und Friedrich Ollendorf. Die Zahl
der ordentlichen Hörer betrug im Sommersemester 1930/31 109. Die
Bibliothek der Hochschule umfaßt (1931) ca. 55 000 Bände. 1907 ff. gab
die Hochschule eine Reihe von Abhandlungen unter dem Titel "Schriften
der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums" heraus.
Encyolopaedia Judaica, Berlin 1931, Spalte 159 und 160
Rabbiner Nathan Peter Levinson, einer der letzten
Studenten, beschreibt in einem Nachruf für seinen Lehrer Rabbiner
Leopold Lucas, seine Erinnerungen:
"Zunächst möchte ich erwähnen, daß er mein
Lehrer war und das in einer der dunkelsten Stunden der Geschichte.
Zwischen 1940 und 1941 unterrichtete er mich und einige wenige
Studenten in Berlin an der einzig verbliebenen, aber nicht als
solche mehr anerkannten jüdischen Hochschule im Fach Jüdische
Geschichte. Juden durften damals keine Theater mehr besuchen, keine
Kinos, keine Cafés und natürlich keine Universitäten. Die Synagogen
waren im November 1938 zerstört worden. So blieb die Lehranstalt
fast der einzige Ort, an dem Juden sich geistig betätigen konnten.
Früher Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, war ihr der
Hochschulstatus aberkannt worden. Es unterrichteten dort neben dem
geistigen Haupt der deutschen Judenheit, Leo Baeck, nur noch eine
Handvoll Dozenten, unter ihnen Leopold Lucas. Von den damaligen
Studenten überlebten nur wenige: außer mir noch drei Kommilitonen.
In diesen Tagen schrieb mir der Sohn des Rabbiners, den die Eltern
noch 1938 in das rettende Ausland schicken konnten, wie folgt: „Die
Vorstellung ernster wissenschaftlicher Arbeit und Studium unter
solche bedrückenden Umständen gehört zu den Ruhmestaten unseres
Volkes und ich glaube, daß die meisten Menschen sich gar nicht
vorstellen können, was das eigentlich bedeutet." In der Tat war
diese Hochschule eine Insel innerhalb eines brandenden Meeres.
Draußen war die Gewalt, der Schrecken, die Einschüchterung, die
Entrechtung. Innerhalb der Mauern und Lehranstalt fühlte man sich
wie in einer anderen Welt, der Welt des Geistes, die nicht bezwungen
werden kann."
Während der Nazizeit waren immer mehr Juden durch die
Ausgrenzungsmaßnahmen vom Verlust des Arbeitsplatzes und zunehmender
Verarmung betroffen. Der Bedarf an Mitarbeitern in jüdischen
Sozialeinrichtungen stieg. In der ehemaligen Hochschule für die
Wissenschaft des Judentums wurden deshalb Fortbildungskurse für jüdische
Sozialarbeit eingerichtet.
Die Bemühungen, die Institution nach London zu
verlegen, scheiterten an den immer wieder verschärften gesetzlichen
Bestimmungen. Am 19. Juli 1942 wurde die Einrichtung geschlossen. Der
letzte Rektor war Rabbiner Leo Baeck. Die wertvolle Bibliothek, die rund
60.0000 Bände umfaßte und eine reichhaltige Sammlung von
Ritualgegenständen, wurde von der Gestapo beschlagnahmt.
Eingangbereich ehem. Hochschule für die
Wissenschaft des Judentums (1998);
Foto: Marion Keunecke
Während der DDR-Zeit war das Gebäude ein Wohnhaus.
Seit 1988 erinnerte eine Gedenktafel an die Geschichte des Hauses. Nach
dem Restitutionsverfahren hat der Zentralrat der Juden in Deutschland
das Haus erworben. Nach der Renovierung und Restaurierung wurde es am
19. April 1999 als "Leo-Baeck-Haus" eröffnet. Seitdem hat der Zentralrat
nun hier seinen Sitz. Auch die Redaktionsräume der Allgemeinen Jüdischen
befinden sich in diesem Gebäude sowie Büroräume des ECJC (European
Congress of Jewish Communities) sowie des World Jewish Congress.
Zum Weiterlesen:
Geschichte der Wissenschaft des Judentums - von den
Anfängen bis zur Gegenwart
Esther Seidel:
Was ist Wissenschaft des Judentums?
Shoshana Ronen (Studentin in den 20iger Jahren):
Keine
von uns wollte Rabbinerin werden
Ilse Perlman:
Studentin in der Nazizeit
Stadtrundgang:
Jerusalem des Nordens - Berlin als Zentrum jüdischen Lernens und
Lehrens
hagalil.com
22-10-02
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