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Meine Erinnerungen an die "KRISTALLNACHT"

Ernst Günter Fontheim

"Eine Welle der Zerstörung, von Plünderungen und Brandstiftungen - zu der es seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648) keine Parallele gibt - und in Europa insgesamt seit der boschewistischen Revolution - ereignete sich heute als die Gruppen der Nazionalsozialisten Rache nahmen an jüdischen Geschäften, Einrichtungen und Synagogen und zwar für den Mord, der durch einen polnischen Juden an Ernst vom Rath, den dritten Sekretär der Deutschen Botschaft in Paris verübt worden war."

So begann der Artikel auf Seite 1 der New York Times vom 11. November 1938, der über die Ereignisse berichtete, die unter dem Namen "Novemberpogrom" oder "Kristallnacht" bekannt wurden. Kürzlich las ich mit tiefen Emotionen diesen Artikel, fast 60 Jahre nach dem ich Zeuge eines kleinen Teils dieser Welle von Haß und Gewalt geworden war, und zwar als Teenager in Berlin.

Donnerstag, 10. November 1938: Der Tag begann wie jeder andere. Ich verließ unsere Wohnung am Kaiserdamm im Ortsteil Westend in Berlin um etwa 7.20 Uhr um zur nächsten S-Bahn-Station einige hundert Meter weiter zu gehen, an Wohnhäusern und Villen vorbei. Es gab keine Anzeichen von außergewöhnlichen Aktivitäten. Von dort nahm ich den Zug für eine etwa 15minütige Fahrt zur Haltestelle "Tiergarten" im Zentrum von Berlin. Dort war das Gymnasium der orthodoxen Gemeinde Adass Jisroel, wo ich einige Minuten vor Unterrichtsbeginn um 8.00 Uhr ankam.

Als ich das Klassenzimmer betrat, erzählten einige Klassenkameraden schreckliche Geschichten von dem, was sie auf ihrem Schulweg gesehen hatten: Eingeworfene Scheiben jüdischer Geschäfte, plündernden Mob und sogar noch brennende Synagogen. Einige Schüler waren nicht zum Unterricht gekommen. Die Glocke läutete um 8.00 Uhr um den Schulbeginn anzuzeigen, aber kein Lehrer war in Sicht - weder in unserer Klasse noch in irgendeiner anderen Klasse auf dem Korridor. Das war noch nie zuvor passiert. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte bis die Lehrer aus der Lehrerkonferenz kamen und in die verschiedenen Klassenzimmer gingen. Sie sahen alle äußerst finster drein.

Als unser Lehrer Dr. Wollheim das Klassenzimmer betrat und die Tür hinter sich schloß, hörten alle Gespräche sofort auf, und es war vollständig ruhig im Raum. Auch das war einmalige, denn im allgemeinen waren wir ein ziemlich undisziplinierter Haufen und es waren einige Ermahnungen nötig bis es einigermaßen ruhig wurde.

Mit angespannter Stimme kündigte Dr. Wollheim an, daß die Schule uns heute nach Hause schicken würde, weil man nicht für unsere Sicherheit garantieren könne. Dann folgten eine Reihe von Instruktionen, wobei er uns drängte, diese ins kleinste Detail zu befolgen. Erstens sollten wir direkt nach Hause gehen und das so schnell wie möglich ohne irgendwo unterwegs herumzulungern oder Freunde zu besuchen, so daß unsere Eltern wissen würden, daß wir in Sicherheit seien.

Zweitens sollten wir nicht in großen Gruppen gehen, denn das würde Aufmerksamkeit auf uns ziehen und möglicherweise Gewalt durch feindliche Menschenmengen nach sich ziehen. Er schloß seine Ausführungen damit, daß er mitteilte, in absehbarer Zeit würde kein Unterricht stattfinden und wir würden benachrichtigt, wenn die Schule wieder beginnen würde.

Schnell ging ich zurück zur S-Bahn-Station Tiergarten und beschloß, aus dem Fenster zu sehen, wenn der auf einer erhöhten Trasse fahrende Zug an der Synagoge Fasanenstraße vorbeikommen würde, wo ich Bar Mizwa geworden war. Es war ein wunderschönes in maurischem Stil mit drei großen Kuppeln erbautes Gebäude. Ich fühlte buchstäblich wie mein Herz in meinen Magen fiel als ich eine dicke Wolkensäule aus der mittleren Kuppel steigen sah. Es war windstill an diesem Tag und die Rauchsäule schien bewegungslos bis in den Himmel zu reichen. In diesem Moment verließ mich mein rationales Denken. Ich stürzte aus dem Zug an der nächsten Haltestelle und raste einige Häuserblocks zurück als würde ich von einer unwiderstehlichen Kraft gezogen. Ich dachte nicht mehr an Dr. Wollheims Anweisungen und auch nicht an irgendeine mögliche Gefahr für mich. Polizeibarrikaden hielten die Gaffer auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Aus Löschzügen mit Wasserschläuchen wurden die angrenzenden Gebäude bespritzt. Die Luft war erfüllt von dem beißenden Gestank von Rauch. Ich wurde in eine feindliche Menschenmenge hineingedrückt, die in einer furchtbaren Stimmung war und antisemitische Parolen schrie. Ich war vollständig hypnotisiert von der brennenden Synagoge und ließ jede mögliche Gefährdung außer acht. Ich dachte an die vielen Male, an denen ich hier Gottesdienste besucht hatte und Predigten gehört hatte, die alle meine Seele gestärkt hatten während diesen schwierigen Jahren der Verfolgung. Nicht einmal die schon fast 6 Jahre dauernde Herrschaft der Nazis hatte mich auf eine solche Erfahrung vorbereitet.

Plötzlich schrie jemand, daß eine jüdische Familie im Erdgeschoß des Wohnhauses gegenübervon der Synagoge wohnen würde. Mit dem Blick auf die brennende Synagoge wurden die Menschen an die Wand hinter sich gedrückt. Irgendjemand anderer schrie: "Na, dann laßt uns da hingehen". Jedermann drehte sich um. Diejenigen die am nächsten Standen, drängelten sich durch den Eingang des Gebäudes. Ich konnte harte Schläge gegen die Wohnungstür hören. In meiner Phantasie stellte ich mir eine vor Angst zitternde Familie vor, die sich in einem Raum versteckt, der so weit wie möglich von der Eingangstür entfernt war und hoffte und betete, daß die Türe standhalten würde. Und ich betete mit ihnen. Wie heute erinnere ich mich an den gewaltig krachenden Lärm der splitternden Tür, der eine Totenstille folgte. Dann plötzlich ertönten wilde Triumphschreie. Ein älterer kahlköpfiger Mann wurde brutal durch die Menge gestoßen während Fäuste auf ihn einprügelten. Dies wurde begleitet von antisemitischen Ausfällen. Sein Gesicht war blutig. Ein einziger Mann in dieser Menge rief: "Wie feige! So viele gegen einen!"

Sofort wurde er von anderen angegriffen. Nachdem der ältere Jude an den Bordstein getrieben worden war, erschien geheimnisvollerweise ein Polizeiwagen. Er wurde hineingestoßen und weggebracht. Ich verließ dieses Horrorszenario und war völlig erschöpft, fassungslos und ging wie in Trance nach Hause.


Fasanenstraße 1912

Innenraum der Synagoge


Innenraum der Synagoge nach der Zerstörung

Einige Jahrzehnte später geriet ich an einen Artikel aus dem Berliner Tageblatt vom 26. August 1912, in dem die Einweihungszeremonie der Synagoge in der Fasanenstraße beschrieben wurde. Im Licht der Zerstörung dieser Synagoge, deren Zeuge ich 26 Jahre, 2 Monate und 15 Tage später am 10. November 1938 geworden war, repräsentiert diese Einweihungszeremonie eine bittere Ironie auf verschiedenen Ebenen. Ich denke, es ist historische bedeutsam genug um einige Auszüge aus diesem Artikel hier zu zitieren:

"Die festliche Einweihung der neuen Synagoge in der Fasanenstrasse fand heute mittag statt in Anwesenheit von höchsten Repräsentanten der Regierung, des Militärs und der Stadt...
Um genau 12.00 Uhr kam der persönliche Vertreter des Kaisers, sein militärischer Adjutant Generalleutnant von Kessel. Er wurde auf einem Ehrenplatz auf der Bima geleitet. Neben ihm saß der Staatssekretär des Innenministeriums Holtz. ... Zusätzlich waren viele protestantische und katholische Kirchenrepräsentanten gekommen und alle Rabbiner der Berliner jüdischen Gemeinde"

Die Zeremonie begann mit einer festlichen Prozession der Torahrollen durch die Synagoge, die von den Liedern eines Chors und Orgelmusik begleitet wurde.. Anschließend wurden die Torahrollen in den Torahschrein gehoben. Nachdem die Gemeinde unter der Leitung des Kantors gesungen hatte, führte Rabbiner Bergmann die wunderschöne Zeremonie durch bis zum Entzünden des ewigen Lichts. In seinem Grußwort sage er, so wie das Licht dieses ewigen Lichtes, so möge auch niemals die Liebe dieser Gemeinde zu ihrem Vaterland verlöschen.

Was in meinem Gedächtnis für immer haften bleiben wird, ist das Bild der dicken Rauchsäule, die über der mittleren Kuppel dieser wunderschönen Synagoge stand und der blutige Kopf dieses unbekannten Juden.

(Aufbau, Nr 26, 18, Dezember 18, 1998) - mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber

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