70 Jahre Jugendalijah:
Als Pionier in Palästina
Nathan Höxter (geb 1916) wuchs in einer
orthodoxen Familie in Berlin auf. Sein Vater Levi Höxter war Rabbiner der
Synagoge "Beth Zion"
in der Brunnenstraße. Er gehörte zur Gruppe der ersten 6 Jugendlichen, die
mit der Jugendalijah nach Palästina kamen. Er lebt seit 1934 im Kibbuz Geva.
Von Iris Noah
Sie sind in einem orthodoxen Elternhaus
aufgewachsen. Wie kamen Sie mit dem Zionismus in Berührung?
Als Jugendlicher löste ich mich vom religiösen Leben in
meinem Elternhaus. Ich trat in die Jungenschaft des JJWB (Jung-Jüdischer
Wanderbund) ein. Das war zuerst eine Art Pfadfinder-Organisation, deren
Führer zur zionistischen Bewegung gehörten. Es kamen erwachsene Abgesandte
aus Palästina, welche die jüdischen Jugendbewegungen zionistisch stark
beeinflußten und ihre Mitglieder zu potentiellen Pionieren erzogen, die dann
später ins Heilige Land zogen um es neu zu besiedeln. Dieser Gedanke fand
bei mir ein lebhaftes Echo.
Wie bekamen Sie Kontakt zu Recha Freier, der
Gründerin der Jugendalijah?
Ich sang damals an jedem Schabbat und an den Hohen
Feiertagen im Knaben und Männerchor der sogenannten "Alten Synagoge" in der
Heidereutergasse. Die Alte Synagoge wurde damals von Rabbiner Freier
geleitet, der mit meinem Vater befreundet war. Ich wußte, daß Rabbiner
Freier selbst kein Zionist war, seine Frau, Recha Freier, sich hingegen für
Palästina interessierte und auch die Probleme der jüdischen Jugendlichen
kannte. Ich suchte sie eines Tages auf, und es kam zu einem ausführlichen
Gespräch. Ich erzählte ihr von meinen aus ärmeren Familien stammenden
Freunden, die Arbeit suchten. Recha Freier machte einen enorm postitiven
Eindruck auf mich. Sie kam mir vor wie die Prophetin Deborah aus der Bibel.
Recha Freier schreibt in ihrem Buch "Let the
Children Come" Sie hätten sie inspiriert, eine Organisation zu gründen, die
jüdische Kinder und Jugendliche nach Palästina bringen sollte?
Sie nahm Kontakte nach Palästina auf, um herauszufinden,
ob es dort überhaupt Möglichkeiten gab, Kinder aufzunehmen. Sie versuchte
auch, bei einflußreichen deutsch-jüdischen Organisationen Hilfe für ihre
Pläne zu erhalten, stieß aber bei den meisten auf Ablehnung. Ihre
Argumentation und vor allem das herannahende NS-Regime rührten die
maßgeblichen Organe, die auch über die Gelder zu einer Evakuierung jüdischer
Kinder verfügten, nicht im geringsten. Nur in den Jugendorganisationen fand
sie ein offenes Ohr für ihre Initiative und wurde von dieser Seite
wenigstens moralisch unterstützt.
1932 versuchte Recha Freier ihr Glück bei schon
bestehenden Kibbuzim in Palästina. Diese waren damals jedoch aus
wirtschaftlichen oder pädagogischen Gründen noch nicht bereit, Kinder
aufzunehmen. Da hörte sie von einem Kinderdorf namens "Ben-Schemen" unweit
von Lod, einer damals kleinen Stadt bei Tel Aviv. Dieses Kinderdorf war im
Grunde eine Schule, in der Landwirtschaft unterrichtet wurde, um Kinder für
den Aufbau des Landes vorzubereiten. Leiter war der Berliner Arzt Dr.
Siegfried Lehmann, der in den frühen zwanziger Jahren nach Palästina
gekommen war und diese Schule für Kinder aus Kowno (der damaligen Hauptstadt
Litauens) gegründet hatte, die nach Pogromen ihre Eltern verloren hatten.
Recha Freier wandte sich nun an Dr. Lehmann mit dem Vorschlag, eine kleine
Gruppe jüdischer Kinder aus Berlin aufzunehmen.
Wie reagierten die offiziellen Stellen?
Die zuständigen Stellen, die von der britischen Regierung
die Zertifikate zur Verteilung erhielten, dachten eigentlich nicht an eine
Berücksichtigung von Kindern und gaben sie nur an Erwachsene weiter, die an
Auswanderung interessiert waren. Dr. Lehmann bemühte sich beim High
Commissioner - dem Hochkommissar der britischen Mandatsregierung - sehr um
das Berliner Vorhaben, und dieser stellte dann Dr. Lehmann tatsächlich
zweimal sechs Zertifikate für Schüler zur Verfügung.
Im Oktober 1932 war es dann doch soweit. Dr. Lehmann kam
wieder nach Berlin, und zwar mit einem Lehrer seiner Schule namens Akiba
Wanchozker, der sich später Jischai nannte. Die beiden prüften unsere
sechsköpfige Gruppe noch einmal, um sich zu vergewissern, daß wir in dieses
Kinderdorf passen würden. Die Spannung war groß. Sie unterhielten sich auch
mit allen Eltern, um sich deren Einverständnis zu sichern.
Warum hat sich die Abreise der Gruppe mehrmals
verschoben?
Recha Freier hatte inzwischen viele Schwierigkeiten in
ihrem Kampf um die Organisation der Jugendalijah, da viele Führer jüdischer
Organe in Deutschland gegen ihre Pläne waren. Hinzu kam, daß Henrietta
Szold, eine amerikanische Jüdin, die schon in Palästina lebte und Mitglied
des "Waad Leumi" (offizielle Vertretung der jüdischen Bürger Palästinas)
war, ebenfalls sehr gegen die Pläne Recha Freiers agierte. Sie hielt es
nicht für angebracht, jüdische Kinder aus Deutschland in Kibbuzim zu
schicken. Später erfuhr ich, daß Henrietta Szold wohl - zumindest zeitweise
- den Kibbuzim nicht sehr hold war, da die meisten von ihnen linke
Positionen vertraten. Im Laufe der Jahre allerdings sah sie ein, daß Recha
Freier im Recht war, und daß nur durch die Jugendalijah ein Teil der
jüdischen Jugend vor den Nazis gerettet werden konnte.
Wie sahen die praktischen Vorbereitungen aus?
Das Warenhaus "Israel" übernahm die Bekleidung und
Versorgung, da die meisten Kinder aus armen Verhältnissen stammten. Die
Ausstattung war sehr großzügig, und Israel war stolz auf die Ehre, seinen
Teil beitragen zu dürfen. Auch geistige Vorbereitungen gab es, viele
Vorträge über Palästina, das Klima, die Bewohner - Juden und Araber -, die
Geschichte der Teilung des damaligen Palästina in "Transjordanien" (das
heutige Jordanien) und "Cisjordanien" (das heutige Israel) nach dem Ersten
Weltkrieg, als England vom Völkerbund das Mandat über Palästina erhielt.
Am Abend des 12. Oktober 1932 kamen wir am Anhalter
Bahnhof an. Die Bahnsteige waren von einer riesigen Menschenmenge besetzt,
und nur mit Mühe konnten wir uns zu unserem schon wartenden Zug
durchkämpfen. Die meisten Menschen waren Jugendliche aus allen möglichen
zionistischen Jugendorganisationen; sie kamen, um sich von uns sechs Jungen
der ersten Gruppe zu verabschieden, die nun also nach Palästina reisen
durfte. Es gab viel Tumult, hebräische Lieder wurden gesungen, die wir im
Lauf der Zeit gelernt hatten. Die Bahnbeamten waren erstaunt und begriffen
kaum, was los war. Recha Freier war überglücklich und weinte vor Freude.
Meine Mutter weinte mit allen anderen Eltern, weniger aus Freude, denn aus
Sorge um ihre Kinder, die nun in ein fremdes Land fuhren.
Wie verlief die Reise?
Die Fahrt dauerte einen Tag und zwei Nächte. Es gab viele
Aufenthalte, so an der deutsch-schweizerischen Grenze und, als wir die
Schweiz durchquert hatten, an der italienischen Grenze, bevor wir endlich in
Brindisi ankamen. Dort erwarteten uns junge Italiener, die uns unterbrachten
und versorgten. Die Atmosphäre während der Bahnfahrt war ein Gemisch aus
Freude, Sorge und unbestimmten Erwartungen. Die einzigen zwei Menschen, die
wir in Palästina kannten, waren Dr. Lehmann und Akiba Wanchozker.
Nun stellte sich heraus, daß wir einige Tage in Brindisi
warten mußten, bis eine größere Gruppe jüdischer Jugendlicher aus Polen
eingetroffen war, die mit uns reisen sollten. Diese Gruppe war für den
Kibbuz Degania vorgesehen, um nämlich diesen zu vergrößern, hatte aber
nichts mit der deutschen Jugendalijah zu tun. Endlich kamen die
Neueinwanderer aus Polen an, und wir bestiegen alle das Schiff, die
"Italia"."Es war ein mittelgroßes Schiff, das auch später zwischen Brindisi
und Jaffa verkehrte und vor allem Neueinwanderer brachte. Die Fahrt dauerte
fünf Tage.
Welche ersten Erinnerungen haben Sie an
Ben-Schemen?
Wir wurden von allen Bewohnern erwartet und mit großer
Wärme empfangen. Im Speisesaal war für uns das Abendessen vorbereitet, und
die Schüler versammelten sich draußen, um die "Deutschen" zu bestaunen. Vor
allem gefiel ihnen, wie man mir später erzählte, wie gut wir mit Messer und
Gabel umgehen konnten. Dann brachte man uns in Zelten unter, die vor dem
Ersten Weltkrieg der britischen Armee gehörten. Sie waren mit großen Fliesen
ausgelegt, in der Mitte der Mast, an dem eine Petroleumlampe hing. Es sah
ein wenig ärmlich aus, aber ich gewöhnte mich schnell an die neuen Umstände.
Man wohnte zu dritt im Zelt, schlief auf einfachen Eisenbetten,
wahrscheinlich auch aus britischen Armeebeständen. Ich wohnte mit zwei schon
etwas älteren Schülern zusammen. Einer war aus Rußland, der andere aus
Kurdistan. Beide sprachen fließend hebräisch, wovon ich kein Wort verstand.
Wie sah der Tagesablauf aus?
Der Tag war in zwei Teile geteilt: Vormittags war Schule,
nachmittags wurde gearbeitet. Es gab eine ziemlich große Landwirtschaft:
Ackerbau, Gemüsegarten, Kuhstall, Pferde und Maultiere, auch Werkstätten wie
Tischlerei und Schlosserei. Zwei große Schülergruppen bildeten die
sogenannte "Älterenschaft". Wir gehörten zum Jahrgang B, während die ein
oder zwei Jahre älteren Schüler den Jahrgang A bildeten.
Ben Schemen war nicht nur eine landwirtschaftliche Schule,
sondern zugleich auch "Kinderrepublik", die sich selbst leitete, jedoch vom
Lehrpersonal betreut und gelenkt wurde. Pädagogik wurde großgeschrieben,
ganz im Sinne des Leiters Dr. Lehmann. Es gab einen "pädagogischen
Ausschuß", in dem alle Lehrer und erwachsenen Gruppenleiter saßen. Ein
Schüler aus dem älteren Jahrgang, der von uns allen gewählt wurde, nahm an
den wöchentlichen Sitzungen teil und hatte das Recht, Vorschläge,
Beschwerden und Kritik vorzutragen, welche die Schüler betrafen. Von
"Hausmüttern", die sich um unser Wohl, Pflege, Kleidung usw. kümmerten,
wurden wir zu Hausarbeiten angehalten. Ich lernte Wäsche waschen, bügeln,
Knöpfe annähen und sogar Strümpfe stopfen.
Wie war das Verhältnis zur arabischen Bevölkerung?
Dr. Siegfried Lehmann war auch politisch tätig. Zu jener
Zeit gab es eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern, Professoren an der
neuen Hebräischen Universität zu Jerusalem, die 1925 gegründet worden war,
die sich "Brith Schalom" nannte, zu deutsch "Friedensbund". Zu dieser Gruppe
gehörten Professoren wie Magnes, Ernst Simon und andere. Auch Dr. Lehmann
gehörte dazu. Wie man schon aus dem Namen ersehen kann, war ihr Ziel
Verständigung mit der damaligen arabischen Bevölkerung auf Basis der
Gleichheit. Lehmann und seine Freunde warben um die Freundschaft der Araber,
und vor allem war es Dr. Lehmann, der die Möglichkeiten der Nachbarschaft
Ben-Schemens mit den umliegenden arabischen Dörfern zur Annäherung nutzte.
Er lud zu jeder Festlichkeit die Oberhäupter der Dörfer ein und war mit
allen befreundet. Als Arzt versorgte er des öfteren Kranke aus den Dörfern,
die nach Ben-Schemen zur Behandlung kamen. Die Hauptarbeit erledigte jedoch
seine Frau, die unsere Ärztin war: Dr Klevanska war aus demselben Holz
geschnitzt, ein sehr lieber Mensch, die auf ihrem Gebiet große Pionierarbeit
leistete. Sie hatte in Berlin Medizin studiert, und dabei haben sich die
beiden kennengelernt.
Wie sahen Ihre Zukunftspläne aus?
Als ich nach Ben-Schemen kam, dachte ich, nach
Absolvierung der zwei Jahre Schulzeit an die Hebräische Universität
Jerusalem zu gehen. Meine Eltern hätten mich gerne als Rabbiner gesehen,
aber meine Mutter wollte mich lieber Jura mit dem Berufsziel Rechtsanwalt
studieren lassen, weil sie nach dem Tod meines Vaters sah und verstand, daß
aus mir kein Rabbiner werden würde. mein eigener Traum war,
Musikwissenschaft zu studieren. Musik zog mich so an, und ich wußte auch,
daß ich die dazu erforderliche Begabung besaß.
Aber es kam dann doch ganz anders?
In unserem Jahrgang entstanden zwei Kreise, ein größerer
und ein kleinerer. Ich gehörte zum kleineren, der sich zum Ziel setzte, in
einen bestehenden Kibbuz zu gehen. Im Jahre 1933 besuchte ich den Kibbuz
Geva. Der Ort und die Menschen gefielen mir auf Anhieb. Ich hatte mehrere
Gespräche mit den Leitern und beschloß, meiner Freundin Nechamah
vorzuschlagen, nach Beendigung unserer Schulzeit in Ben-Schemen nach Geva zu
gehen, ein Jahr lang dort zu leben und mitzuarbeiten, um die Menschen und
deren Lebensform kennenzulernen.
Wie war der Abschied von Ben-Schemen?
Der Abschied von meiner ersten Heimat in Palästina im Juli
/ August 1934 fiel schwer. Menschen zu verlassen, die man zwei Jahre lang
lieben gelernt hatte und denen man so viel Dank schuldete, stürzte mich in
eine kleine Krise. Ich hing an Ben-Schemen wie am Nabel. Uns beiden fiel es
überdies schwer, uns von all den guten Freunden unseres Jahrgangs zu
trennen.
Hatten Sie weiterhin Kontakt mit Recha Freier?
Sie war hier meine ''zweite Mutter'' und wir waren sehr
eng befreundet, so auch mit ihren Kindern, die ich noch aus Berlin kannte
und lange, vor allem mit ihrer Tochter Maajan und dem ältesten Sohn
Schalheveth.
Recha Freier ist in Deutschland weitgehend
unbekannt. Als es zum 50. Geburtstag des Staates Israel in der Berliner
Akademie der Künste eine Ausstellung des Jüdischen Museums gab, die wichtige
Persönlichkeiten Israels vorstellte, wurde Henriette Szold als Gründerin der
Jugendalijah bezeichnet. Der Name Recha Freier tauchte nicht auf. Wie
erklären Sie sich das?
Sie stellen mir da eine unangenehme Fragen (nicht etwa mir
unangenehm, sondern anderen, die leider nicht mehr am Leben sind). Das Thema
Recha Freier war von Beginn an Tabu bei den jüdischen Behörden in
Deutschland, erstens, weil viele Juden Assimilanten waren und auch aus
politischen Gründen, keine besonderen Schritte erlaubten und glaubten, daß
die drohenden Anzeichen, einer Naziherrschaft bald verschwinden werden.
Diesen Herren war Recha ein Dorn in den Augen und sie taten alles mögliche,
um dieser Prophetin den Raum zu nehmen.
Nur die Jugendbewegungen verstanden zur rechten Zeit,
worum es geht und unterstützten Recha sehr. Es gibt heute fast niemanden in
Israel, der den Namen Recha Freier nicht kennt. Auch der Name Henrietta
Szold ist bekannt, aber ehe sie in das ''Projekt Jugendalijah'' einstieg,
war schon vieles im Gange.
Hans Beit, der in Israel der Sekretär der Jugendalijah
war, und den ich gut kannte, antwortete mir auf meine frage, warum man statt
an Recha das Gründungsrecht an Miss Szold vergab, "ja Nathan, Miss Szold
verfügt über das nötige Geld''. Ich habe viel getan, und für ihre
Rehabilitierung gekämpft. Zum 25. Jubiläum der Jugendalijah war sie
Ehrengast beim damaligen Präsidenten Ben Zwie, und ich hatte die Ehre, sie
am Arm zum Präsidenten zu führen. Das war natürlich nicht gerade mein Werk,
aber es wurde bekannt, wer die Gründerin der Jugendalijah war.
Henriette Szold war eine gute Organisatorin und es gelang
ihr, alles zu erweitern, während Recha sich den in Not befindenden
israelischen Kindern zuwandte und dort vieles erreichte.
Nathan Höxter hat seine Lebensgeschichte
aufgeschrieben:
Jüdische Pionierarbeit, nach Kindheit und früher Jugend in Berlin ein Leben
im Kibbuz Geva und neue Brücken nach Deutschland 1916 - 2000;
Hartung-Gorre-Verlag,
Konstanz, 2000
Zum Weiterlesen:
hagalil.com
30-01-03
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