Vitamin "K" für
Kultur
Elena Burlina (Düsseldorf)
Manche der russischsprachigen Juden sind mehr kulturell,
andere eher religiös interessiert. Rabbiner Goldberger verglich das neue
Dasein der Emigranten mit einem leeren Teller, der gefüllt werden muß.
Seit 1996 existiert der Klub „der Kreis" in der Jüdischen Gemeinde
Düsseldorf mit inzwischen etwa 200 Mitgliedern, alle sind älter und alle
sind russischsprachig. Die Gemeinde stellt dem Klub den
Veranstaltungsraum unentgeltlich zur Verfügung. Die Teilnehmer reisen zu
Vorträgen und Veranstaltungen aus den Städten der Umgebung an, das
Fahrgeld ist ihr Beitrag.
Etwas später dann hatte sich der säkulare
Kulturverein „Stadt-Land-Planet" gegründet, der mit verschiedenen Museen
in Düsseldorf und anderen Städten in NRW zusammenarbeitet. Beide Vereine
ergänzen sich, und weil die Einwanderer meist ein nur einfaches Deutsch
sprechen und die Themen in der Regel sehr anspruchsvoll sind, ist
Russisch hier die Umgangs- und Vortragssprache. Thesenhaft soll
nachfolgend argumentiert werden.
Emigration und Identifizierung: Man träumte vor
der Emigration von Europa und Deutschland un landete in der Realität von
„Brighton Beach am Rhein" also einer kleinen jüdisch-russischsprachigen
Enklave. Man fühlte sich als geistiger Aristokrat, doch wurde man nun
zur russischen Mafia gerechnet.
Exil und Alter: Nennen wir es den „Noach-Komplex im
Exil": Noach ist der Emigrant, der seine Familie gerettet hat, doch in
der neuen Heimat wird er allmählich zum Gespött seines Sohnes Cham. Der
Emigrant, gerade noch Arzt oder Ingenieur, ist plötzlich unwissender als
sein Enkel, der ein Schulkind ist. Noach ist sprachlich entblößt. Der
Flüchtling war Lehrer mit fehlerfreier Grammatik, und die Sprache war
Ausdruck seines geistigen Lebens und zeugte von seiner Bildung. Jetzt
ist sie ihm genommen. Für seine Kinder ist er der, der die Grammatik
verschandelt.
Identifizierung mit Kultur: Warum verbinden wir unser
Leben mit der Kultur? Es war Sigmund Freud, der im „Unbehagen in der
Kultur" anmerkte: „Wenn Sie nicht den Mut besitzen, Narkotika und
Alkohol zu konsumieren, dann befassen sie sich mit der Kreativität".
Würde man einen professionellen Standard an Bücher und Zeitungen in der
Emigration anlegen, so wären sie in der Regel von keinem großen
Interesse. Doch sieht man sie vom Gesichtspunkt der sozialen
Integration, der psychologischen Unterstützung, der Kompensation, dann
sind sie dem Zweck sehr angemessen. Diese für Emigranten wichtigen
Formen gründen sich vor allem auf ehrenamtliche Arbeit.
Das bedeutet für den jüdischen Kulturverein „Stadt-Land-Planet" in
Düsseldorf, sich kulturgeschichtlicher Themen anzunehmen. Vieles
verläuft auf unserer „Allee der Geschichte": Stadtführungen und solche
durch das Goethe-, Heine- und das Theatermuseum, hier wurden
Hamlet-Interpretationen im deutsch-russischen Vergleich debattiert. Ein
anderes Projekt: „Bist du wirklich tot?! Heinrich Heine in Düsseldorf".
Das Haus der Geschichte in Bonn wurde besucht, um die Gegenwart der
Vergangenheit kennenzulernen. Dabei war dann zu entdecken, wie viele
deutschsprachige Menschen, auch Juden, mitlernen könnten. In Köln lag es
nahe, gemeinsam über künstlerische Karnevale und den Karneval in der
Kunst nachzudenken, und in Osnabrück ging es um „der Stern und der Tod
vom Künstler Felix Nussbaum". Eisenach haben wir uns als den Ort Luthers
und Bachs erschlossen.
In Düsseldorf gibt es die Plastik „der Mahner". Wer aber kennt den
Künstler? Das war Anlaß zu fragen: „Wer sind Sie, Vadim Sidur?" So wurde
ein jüdisch-russischer Bildhauer und seine Biographie in unser
Bewußtsein gerückt, ebenso wie die großen jüdischen Europäer in der
Stadt am Rhein, Heinrich Heine bis Leo Baeck. Interessant sind auch die
Industrie- und Naturmuseen zwischen Duisburg und Brügge. Sie verbinden
mit den Juden in Europa. In Kooperation mit den Museen kam es zu
Studienreisen nach Köln, wohin die Juden mit den Römern kamen, nach
Amsterdam, wo wir das holländische Jerusalem des 17. Jahrhunderts, die
Stadt von Rembrandt, Spinoza und des jüdischen Mädchens Anne Frank
besuchten, nach Antwerpen mit seinen Künstlern und seinem jüdischen
Viertel, nach Mainz und Worms, um dem großen jüdischen Gelehrten Raschi
zu folgen, und in Frankfurt am Main erfuhren wir zwischen Römerberg und
Jüdengasse von Bürgeraufstand und Judenfeindlichkeit. In Prag besuchten
wir die älteste europäische Synagoge, sprachen über Franz Kafka und die
Legende vom Golem, in Duisburg die neue Synagoge, und in Berlin
spazierten wir auf den Spuren gewesenen und heutigen jüdischen Lebens.
Ich nenne das Vitamin „K", das „K" steht
hier für Kultur, dieses Lebenselexier für Emigranten, die Russisch
sprechen. Für sie ist die Kultur eines der wichtigsten Mittel zur
Selbstidentifizierung. Unter ihnen sind viele gebildete Menschen,
Intellektuelle und Experten. Sie brauchen mehr als Brot und ein Dach
über dem Kopf, sie brauchen Vitamin „K" - die kulturelle Integration.
Die Kultur ist wie die Kleidung für den „Emigranten Noach", sie bedeckt
seine Blöße, gibt ihm das Fundament für einen neuen Kreativitätsschub,
sie beruhigt. Das gilt nicht nur für die nicht mehr jungen Eltern,
sondern auch für deren kluge Kinder. Die Stille in den Museen und
Bibliotheken, die schöpferische Arbeit schenkt uns Weisheit und entläßt
uns in der Hoffnung auf eine neue Ernte.
Vom Altern in der Fremde - über Chancen und Hindernisse der
Integration hochqualifizierter älterer und alter russischsprachiger
„Kontingent-Flüchtlinge" im heutigen Deutschland, hieß das
Kolloquium, auf dem dieser Vortag gehalten wurde. Es fand am 24 / 25.
März 2001 statt und wurde vom
Jüdischen Kulturverein Berlin organisiert.
Situation der Zuwanderer aus den ehemaligen
GUS-Staaten in den jüdischen Gemeinden
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