Beispiel Berlin:
Jüdische
Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990
Von Judith Kessler
3. Zur
Sozialstruktur der jüdischen Migranten
Das
"Wer", "Wie" und "Warum" vor und nach der Migration hängt von Faktoren ab,
die in und außerhalb der Person des Wanderers liegen. Davon ausgehend, daß
die individuellen Bedingungen der Migration im Bildungs-, Erwerbs-,
Familien- und Wohnbereich verankert sind, befaßt sich dieses Kapitel mit dem
Herkunftskontext, den soziodemographischen und sozioökonomischen
Ausgangsbedingungen der Migranten, die gleichzeitig ihre Möglichkeiten in
der neuen Umgebung vorstrukturieren und uns einen genaueren Überblick über
die Sozialstruktur der Gruppe verschaffen.
3.1. Regionale Herkunft
Der Begriff
regionale
Herkunft
bezieht sich auf Merkmale des regionalen Kontextes (z.B.
Gelegenheitsstrukturen), in dem Individuen aufgewachsen sind. Die regionale
Herkunft der Zuwanderer wird hier an erster Stelle betrachtet, da ihr
wesentliche Erklärungskraft für die weitere soziale und räumliche Struktur
des Lebensverlaufs (vgl.Wagner 1989) zuzukommen scheint - somit auch für die
Migration. Dazu wurden die Geburtsorte und die letzten Wohnorte der
Migranten in der Sowjetunion und, soweit möglich, zwischenzeitliche
Wanderungen als Mobilitätsindikatoren erfaßt.
Die jüdische
Bevölkerung der Sowjetunion zeichnet sich durch einen - selbst im
Weltmaßstab - ungewöhnlich hohen Urbanisierungsgrad aus: 98 % leben in
Städten (Mertens 1993,S.31). Die Tabelle A im Anhang, die einer Auszählung
von 4.006 Datensätzen neuzugewanderter Gemeindemitglieder folgt, zeigt eine
Aufschlüsselung ihrer Geburtsorte, aus der hervorgeht, daß auch sie fast
ausnahmslos in Städten geboren sind. Und es sind eher die Groß- und
Hauptstädte der jeweiligen Republiken, aus denen die Migranten kommen -
Orte, in denen gute Informationsmöglichkeiten bestehen und deutsche
Auslandsvertretungen angesiedelt sind. Die geographischen Entfernungen in
der UdSSR sind außerordentlich groß, die Ausreiseformalitäten sind
langwierig und machen häufige Besuche der deutschen Botschaften notwendig.
Für den Kaukasus zeigt sich beispielsweise, daß fast alle Zuwanderer aus den
Hauptstädten Baku, Jerewan und Tbilissi kommen, obwohl die Region auch einen
relativ hohen jüdischen Bevölkerungsanteil in weniger großen Städten hat.
Zusammengefaßt
erfolgten die stärksten Abwanderungsraten mit jeweils über 400 Personen -
gemessen am letzten Wohnort (nicht am Geburtsort) - aus den Großstädten 1.
Moskau, 2. Leningradt/St.Petersburg, 3. Riga, 4. Kiew, 5. Dnepropetrowsk und
6. Odessa (18).
Mit Ausnahme
von Riga waren dies auch die Städte mit dem höchsten jüdischen
Bevölkerungsanteil in der UdSSR (Bland-Spitz 1980, S.44). Über 86 % aller
Migranten kommen so aus den Ballungszentren 1. der Ukraine, 2. Rußlands und
3. des Baltikums, die wenigsten aus Mittelasien (2,5 %)
(19). Die folgende Graphik zeigt, daß die Zuzugszahlen jedoch nicht
immer proportional dem Anteil der jüdischen Bevölkerung in der jeweiligen
Region entspricht. Daß im Gegensatz zur UdSSR die Ukraine und nicht Rußland
an erster Stelle der Einwanderungsregionen steht, könnte an der stärkeren
Ballung von Großstädten (z.B. Dnepropetrowsk als Industriezentrum mit einem
hohen Anteil an Juden) und der noch schlechteren wirtschaftlichen Lage in
der Ukraine liegen.
Von Einwanderern aus
der Ukraine (besonders aus dem Raum Kiew) werden auch häufig die Folgen des
Reaktorunfalls in Tschernobyl als Ausreisegrund angegeben. Mittelasien,
innerhalb der UdSSR die Region mit dem drittstärksten Anteil an Juden, steht
bei der Zuwanderung an letzter Stelle; die baltischen Republiken, in der
UdSSR an letzter Stelle, nehmen bei der Zuwanderung den dritten Platz ein.
Als Gründe für diese Verschiebung bieten sich die jeweilige geographischen
Nähe/Entfernung zur Bundesrepublik (Mittelasien ist am weitesten entfernt,
die Städte des Baltikums sind am nächsten) und regionale kulturelle
Differenzen an. Die Bedeutung der regionalen Herkunft für die Wahl des
Aufnahmelandes betont auch Gitelman, der mehr Ausreisen von Personen aus dem
slawischen Kernland in die USA als nach Israel und umgekehrt mehr
Ausreisende nach Israel aus orientalischen Regionen und den westlichen
Gebieten feststellte. Letztere seien noch eher von der jüdischen Kultur und
Religion geprägt, da sie u.a. erst seit dem 2.Weltkrieg zur Sowjetunion
gehörten und aus peripheren Gebieten und Städten und nicht aus urbanen
Ballungszentren stammten, in denen Juden am stärksten (russisch)
akkulturiert sind (nach Mertens 1993, S.106).
Gitelman traf seine
Aussagen für die 70er und 80er Jahre, bevor Juden auch offiziell nach
Deutschland einwandern konnten. Es dürfte dennoch an parallelen Gründen
liegen, daß die baltischen Juden und jene aus den ehemals zu Polen und
Rumänien gehörenden Gebieten nun auch in Berlin so stark präsent sind: der
Affinität dieser Gruppe nicht nur zur jüdischen, sondern auch zur deutschen
Kultur, die sich ebenso aus dem späten Anschluß an die UdSSR und der
deutsch-jüdischen Geschichte der westlichen Territorien der UdSSR ergibt,
z.B. in Bezug auf Personen, die aus Riga oder Tschernowzy kommen (siehe auch
3.4). So ist der Anteil älterer Migranten aus diesen Regionen auch am
höchsten. Daß sich die Zahl der aus dem Baltikum stammenden Migranten
gegenüber 1993 überproportional erhöht hat, liegt jedoch eher an der
Neugründung der entsprechenden Republiken, die nun nicht auf ihrem
Territorium Geborenen und Juden z.B. die Staatsbürgerschaft verweigern.
Für Berlin mit seinen
vielen ashkenasischen (europäischen) Juden und dem recht kleinen Anteil an
sephardischen (orientalischen) Juden bestätigt sich wiederum, daß letztere
offenbar ehernach Israel als klimatisch und kulturell ähnlich wahrgenommenem
Land auswandern (20).
Dennoch: Gegenüber der
Voruntersuchung von 1993 haben sich im Gegensatz zu den anderen Regionen
auch die Einreisen aus der Kaukasus-Region und Mittelasien verdoppelt,
aufgrund der Bürgerkriege im Kaukasus, der Wahrnehmung der dortigen Juden,
als Spielball zwischen den Kriegsparteien benutzt zu werden und der
zunehmenden Islamisierung der asiatischen Republiken. Daß die Migranten
insgesamt bereits vor ihrer Ausreise eine ausgeprägte regionale Mobilität
aufwiesen und Ortswechsel durchaus üblich waren, zeigt ein Vergleich
zwischen Geburts- und Ausreiseorten. Nur bei 46,5 % der Zuwanderer ist der
Geburtsort identisch mit dem Zuzugsort, d.h. dem letzten Wohnort vor der
Einreise in die Bundesrepublik. Bei den Binnenmigrationen war die
Fluktuation aus kleineren Orten in die Großstädte besonders auffällig.
Geboren in Moskau z.B. sind 440 Zuwanderer (von 4.006 Personen), von denen
fast alle auch Moskau als letzte Adresse angaben; insgesamt lebten aber 722
Personen vor der Ausreise dort. Besonders starke Zuzugsraten hatten daneben
Leningrad/St.Petersburg (Geburtsort von 301, Ausreiseort von 510 Personen),
Riga (Geburtsort von 310 Personen, Ausreiseort von 433 Personen) und Wilna
(Geburtsort von 53 Personen, Ausreiseort von 99 Personen). Leichte
Fluktuationsraten verzeichnen hingegen die Großstädte Dnepropetrowsk,
Odessa, Baku und Minsk, während sich bei den anderen Großstädten Geburts-
und Zuzugsortwerte etwa die Waage halten.
Die Mobilität der
Migrantengruppe ist jedoch größer, als diese Zahlen vermuten lassen. Da in
der Erhebung zwar Geburts- und Ausreiseorte, nicht aber zwischenzeitliche
Orts- und Adressenwechsel erfaßt wurden, bot es sich zumindest bei Familien
an, Geburtsorte von Eltern und Kindern sowie den jeweiligen letzten Wohnsitz
miteinander zu vergleichen. Dabei war eine erhebliche Zahl weiterer
Binnenmigrationen (ca. 30 %) feststellbar, die u.U. wieder im Geburtsort
endeten. In noch stärkerem Maße trifft dies auf die vor 1941 geborenen
Kohorten zu (d.h. fast 40 % der gesamten Migrantengruppe), die zu über 80 %
ihren Geburtsort im europäischen Teil der Sowjetunion aufgrund von
Evakuierungsmaßnahmen (hauptsächlich nach Kasachstan, Usbekistan,
Aserbaidshan, Sibirien), Flucht oder Deportation während des 2. Weltkrieges
ebenfalls schon einmal verlassen hatten, zum großen Teil nach Ende des
Krieges aber wieder dahin zurückgekehrt waren
(21).
Insgesamt hat der
größte Teil der Gruppe, meist bereits in frühen prägenden Lebensphasen, eine
oder mehrere Migrationen absolviert, ist also relativ "wanderungsgewohnt",
determiniert durch die Kriegseinwirkungen, die allgemeine Verstädterung, die
sowjetische Siedlungs- und Aufbaupolitik und die höhere Mobilität von
Menschen aus Großstädten, in denen der Ressourcenzugang und die
Bildungschancen größer sind als in Kleinstädten (siehe 3.3), ein Merkmal,
das für weitere Mobilität wesentlich sein kann.
Hinsichtlich ihrer
regionalen Herkunft und ihrem Mobilitätsverhalten unterscheiden sich die
jüdischen Zuwanderer deutlich von den deutschen Aussiedlern, deren regionale
Herkunft weniger breit gestreut ist und sich auf den asiatischen Teil der
UdSSR konzentriert (siehe Diagramm Anhang S. V), die häufig aus mittelgroßen
Städten, Dörfern und kleinen Siedlungen kommen und oft direkt aus ihrem
Geburtsort ausreisen, wobei auch die durchschnittlich schlechtere Ausbildung
der Aussiedler (siehe 3.3) und ihre stärkere Orts- und Familienbindung (vgl.
Dietz 1990) zur geringeren Binnenmobilität beigetragen haben dürfte
(22).
3.2 Alter und Geschlecht
Die demographische
Struktur der Juden in der Sowjetunion zeigt eine stark überalterte
Altersklassenverteilung und - u.a. verbunden mit der hohen Urbanisierung -
geringe Geburtenraten. Aber auch die Folgen des Weltkrieges und der
Verfolgung sind Ursache dafür, daß den 6,9 % bis 10jährigen Juden 1970 in
der Russischen Unionsrepublik z.B. 26,5 % über 60jährige gegenüber standen
(vgl. Schmelz 1983,S.100). Dies steht fast umgekehrt proportional zur
damaligen sowjetischen Gesamtbevölkerung (vgl. Bland-Spitz 1980)
(23).
Die
Altersstruktur der Migrantengruppe ist ein Spiegelbild dieser
Ausgangssituation, um so mehr, als nicht nur bestimmte Altersgruppen
einreis(t)en, sondern Menschen aller Altersstufen. So zeigt die Abbildung
der einzelnen Geburtsjahrgänge der Zuwanderergruppe einen überalterten
"zerfransten Tannenbaum", ähnlich dem der Berliner Gesamtbevölkerung.
Im Vergleich zur
Berliner Gesamtbevölkerung sind die Altersgruppen der 60 - 75jährigen
deutlich überbesetzt (11,2 % in der Gesamtbevölkerung zu 22,1 % bei den
Zuwanderern) und die der bis 7jährigen (7,3 zu 2,4 %), der 20 - 25jährigen
(4,0 zu 5,9 % ) und der über 85jährigen (1,9 zu 1,3 %) sind unterbesetzt;
die übrigen Altersgruppen unterscheiden sich proportional nicht wesentlich
von der Berliner Bevölkerung (vgl. Infratest 1995,S.121)
(24).
Noch auffälliger sind
bei einigen Altersgruppen die Differenzen zur übrigen ausländischen
Bevölkerung Berlins, die prozentual doppelt so viele Personen zwischen 0 und
15 Jahren sowie 20 und 25 Jahren und extrem niedrige Raten bei allen
Jahrgängen über 65 Jahre (unter 1 %) aufweist. In drei Altersgruppen (0-18,
19-60, über 60) gegliedert, wird aus folgender Abbildung deutlich, daß mehr
als ein Viertel der Zuwanderer über 60 Jahre alt ist, wobei die 61 -
70jährigen die größte Gruppe ausmachen. Personen im arbeitsfähigen Alter (19
- 60 Jahre) stellen die insgesamt größte Gruppe, unter ihnen sind die
Altersgruppen zwischen 31 und 40 sowie 41 und 50 Jahren am stärksten
besetzt. Minderjährige bilden mit 14,5 % die kleinste Gruppe. Die Migranten
haben statistisch gesehen durchschnittlich 1,1 Kinder. Neben der
(häufigsten) 1-Kind-Konstellation gibt es eine relativ hohe Zahl junger wie
älterer Ehepaare, die keine Kinder haben. Familien mit mehr als 3 Kindern
sind die Ausnahme und kommen dann meist aus dem aserbaidshanischen bzw.
kaukasischen Raum (maximal 5 Kinder) (25).
Die
Alterszusammensetzung der Gesamtgruppe hat sich zwischen 1990 und 1995 stark
verändert. An der 1.Phase der Migrationswelle 1990 waren über 60jährige nur
mit 10 % beteiligt, 1993 betrug ihr Anteil an der Gesamtgruppe bereits 20 %
(von allen Einreisenden im Jahr 1993 waren 50% über 60 Jahre) und 1995 dann
27%.
Waren es anfangs mehr
jüngere Leute (am stärksten vertreten waren 1990 die 31 - 40 jährigen), die
aber auch schon mit Kindern einreisten und noch berichteten, ihre
Eltern/Großeltern würden nicht nach Deutschland wollen, ist jetzt die
verstärkte Einreise auch älterer Menschen zu beobachten
(26).
Für viele
wächst der Emigrationsdruck durch die immer schlechtere ökonomische
Situation, für andere sind die bereits emigrierten Kinder Anlaufpunkt wie
Informationsquelle oder bietet das geregelte Einreiseverfahren ein gewisses
Maß an Sicherheit.
Die Berliner Variante
des Familiennachzuges führt darüberhinaus dazu, daß sich hier ältere
Menschen (Eltern) konzentrieren, während Berlin für andere Personen aufgrund
der Quotenübererfüllung "gesperrt" ist. Damit ist der "durchschnittliche
Berliner Zuwanderer" z.Zt. 44,3 Jahre alt. Diese Abweichung von der
Grundgesamtheit der Zuwanderer bestätigt auch die erwähnte Untersuchung für
Stuttgart: Dort liegt der Altersdurchschnitt bei 38,3 Jahren, weil - bei
sonst ähnlicher Verteilung - die Gruppe der über 60jährigen mit 15 %
deutlich kleiner als in Berlin ist (IRG 1994,S.9f). Wird der Mittelwert der
Altersstatistiken des BVA (Referat III 4 1994) und der ZWST (1990-96)
zugrundegelegt, kann für die Gesamtbundesrepublik insgesamt von etwa 18 %
bis 18jährigen, 59 % 19 - 60jährigen (mit der stärksten Ausprägung bei den
35 - 50jährigen) und 23 % über 60jährigen jüdischen Zuwanderern ausgegangen
werden. Die Alterspyramide steht jedoch auch dann immer noch "auf dem Kopf".
Interessant ist hier
ein Vergleich mit der Altersstruktur der deutschen Aussiedler aus der GUS
(siehe Diagramm im Anhang S.V). Bei ihnen stellt sich die Situation am Fuß
und Kopf der Pyramide umgekehrt dar: Allein die Gruppe der 0 -18jährigen
stellt 36 % der Gesamtgruppe, die der 19 -60jährigen 55 % (mit der stärksten
Besetzung bei den 30 - 40jährigen) und die über 60jährigen die restlichen 9
% (IDDA 1995,Nr. 69, S.17). Die deutschen Aussiedler sind also im
Durchschnitt deutlich jünger als die jüdischen Zuwanderer; sie haben mehr
Kinder als diese (vgl. auch 4.1.3, 4.1.4) und der Anteil Älterer, die sich
zur Emigration entschließen, ist prozentual viel kleiner als bei der
jüdischen Gruppe (27).
Bezieht man das
Geschlecht
der
Zuwanderer mit ein, so ist die Verteilung auf Männer (mit 49 %) und Frauen
(mit 51 %) insgesamt sehr ausgeglichen. Verteilt auf die einzelnen
Geburtsjahrgänge ergibt sich jedoch ein etwas differenzierteres Bild:
Bei den 31 -
50jährigen überwiegen männliche Zuwanderer mit einem 7 % höheren Anteil als
die Frauen (jedoch weniger als bei der übrigen ausländischen Bevölkerung, wo
es in diesen Altersgruppen deutlich mehr Männer als Frauen gibt; vgl.
Infratest 1995, S.121), der hauptsächlich durch ledige und geschiedene,
allein einreisende Männer zustandekommt. Männer waren auch an der 1.Phase
der Migrationsbewegung 1990 stärker (mit 53 %) beteiligt, ihr "Vorsprung"
wurde jedoch später durch die verstärkte Einreise von (meist älteren) Frauen
wieder aufgehoben (siehe obige Tabelle). Frauen dominieren in fast allen
Geburtskohorten ab dem 56. Lebensjahr, besonders deutlich in den Gruppen der
über 60jährigen mit 57 % zu 43 % Männern.
Im Bundesmaßstab ist
die Differenz mit 59 % Frauen zu 41 % Männern dieses Alters noch etwas
größer (ZWST 1989-1996). Die Unterschiede bei der Verteilung auf die
Geschlechter dürften an der kürzeren Lebenserwartung von Männern liegen, an
den Verlusten bei der männlichen Bevölkerung durch den 2.Weltkrieg und an
der Tatsache, daß sich mehr alleinstehende ältere Frauen als Männer (anders
als bei den jüngeren Männern) zu einer Migration entschließen. Bei der
Gruppe der deutschen Aussiedler wird dieser Trend noch deutlicher: bei sonst
ausgewogenem Verhältnis zwischen Männern und Frauen, dominieren letztere bei
den über 60jährigen mit 61 % (IDDA 1995, Nr.69, S.17).
3.3 Berufsstruktur und
Bildungsniveau
Bildung spielt im
Judentum eine entscheidende Rolle, ist ein "Muß". Die sowjetischen Juden
unterscheiden sich hier nicht wesentlich von der jüdischen Weltpopulation.
Auch Schmelz spricht von einer "conventional Jewish characteristic of a
strong tendency towards high education"(1983,S.94)
(28).
Obwohl Juden in der
Sowjetunion nur 0,7 % der Gesamtbevölkerung ausmachten (Mertens 1993,S.31),
rekrutierten sich aus ihnen 10,8 % aller Wissenschaftler, 14,7 % der Ärzte
und je etwa 10 % der Juristen und Schriftsteller (vgl. Schoeps 1992)
(29).
Der jüdische
Schüleranteil in höheren Bildungseinrichtungen betrug 1970 über die Hälfte
der Alterspopulation der 16 - 24jährigen Juden, der anderer Nationalitäten
lediglich zwischen 10 bis 20 % (Mertens 1993,S.38)
(30).
Die Graphik zeigt, daß
dieses Bild mit dem der jüdischen Migranten korrespondiert. Auch bei den
sowjetischen Zuwanderern, männlichen wie weiblichen, überwiegen akademische
Ausbildungen. Daß die nach Berlin eingewanderten jüdischen Akademiker mit 68
% sogar noch 9 % unter dem Akademikeranteil der Stuttgarter Untersuchung
(IRG 1994, S.14f) liegen, die Ergebnisse zur Berufsstruktur ansonsten aber
ähnlich sind, kann daran liegen, daß in vorliegender Untersuchung nur jene
Migranten als Akademiker bezeichnet werden, die in der Bundesrepublik
ebenfalls als solche gelten (in Form vergleichbarer Hochschul- bzw.
Fachhochschulabschlüsse).
Ferner ist der Anteil
der aus dem asiatischen Teil der UdSSR stammenden Personen, die weniger oft
eine akademische Laufbahn einschlagen als Juden aus dem europäischen Raum in
Stuttgart signifikant kleiner als in Berlin. Bei ihnen sind
Fachschulabschlüsse häufiger und sie sind auch an den lediglich 2 %
Migranten ohne Berufsausbildung stärker beteiligt als die europäischen
Juden.
Die folgende Abbildung
zeigt die Verteilung der Berliner Migranten auf einzelne Berufsbereiche
(unabhängig davon, ob die Person vor der Ausreise noch berufstätig war):
Der Bereich
Technik/Industrie/Bau ist besonders stark vertreten. Das liegt vor allem
daran, daß die ursprünglich agrarische Sowjetunion massiv industrialisiert
wurde, daß die "Ausbildungspolitiker" aus den Juden mit ihrer "ungesunden
Sozialstruktur" - d.h. einem hohen Anteil an städtischen Akademikern,
Angestellten und Kaufleuten (31)
- Techniker und
qualifizierte Industriearbeiter machen wollten (vgl.Vetter 1992, S.18) und
daß es Zugangsbeschränkungen für Juden an den Universitäten gab, besonders
in Prestigefächern (wie Philosophie, Jura, Medizin). Leichter zugänglich
waren die Institute (Fachhochschulen) und weniger beliebte, weniger
prestigeträchtige Bereiche (wie eben die Ingenieurberufe)
(32).
In technischen
Bereichen ausgebildete Migranten kommen so meist aus den industriellen
Ballungsgebieten. Der "Bauingenieur aus Dnepropetrowsk" ist dabei die
häufigste Kombination. Die Ingenieure machen mit 486 Personen auch die mit
Abstand größte Einzelgruppe aus (20 % aller)
(33).
Ihnen folgen die
Lehrer/Dozenten mit 211 und die Ärzte mit 206 Migranten. Diese bringen
zusammen mit den Labortechnikern, Krankenschwestern, Masseuren, Apothekern
u.ä. den medizinischen Bereich nach dem Bereich Handwerk/Dienstleistung auf
den dritten Platz (15 %). Der Bereich Handwerk/Dienstleistung (16 %)
beinhaltet in der Zählung nicht nur Friseure, Kraftfahrer, sondern auch
Personen aus dem administrativen Sektor (Buchhalter), dem Verkaufsbereich
(Verkäuferin, Kassiererin) usw. Sie machen insgesamt einen viel größeren
Anteil dieses Bereichs aus als klassische Handwerker (z.B. Schuster,
Kürschner, Uhrmacher) und Kaufleute. Ihr Anteil steht auch in keinem
Vergleich zu dem überdurchschnittlichen Anteil an jüdischen Handwerkern und
Kleinhändlern (20% / Friedmann 1993, S.43) in der UdSSR bis zum 2. Weltkrieg
(Vetter 1992, S.15). Sie kommen heute häufig aus dem asiatischen Teil der
Sowjetunion wie auch die weniger gut ausgebildeten Zuwanderer (unter
letzeren befinden sich auch ältere Personen, die aufgrund von
Kriegsgeschehnissen, Deportation, Evakuierung oder Wehrdienst die Ausbildung
nicht beenden konnten).
Der akademische Sektor
des kaufmännischen Bereichs ist hingegen stark vertreten. Die 116
Diplom-Ökonomen machen die viertstärkste Einzelgruppe aus. Ihnen folgen die
Musiker/Sänger mit 111 Migranten (hier dem Bereich Kunst/Medien
zugerechnet). Zählt man die 46 Musiklehrerinnen dazu (hier im Bereich
Bildung berechnet), ist der Anteil der musisch Beschäftigten noch höher.
Der Bereich
Kunst/Medien (vgl.DER
SPIEGEL,16/1994)
beinhaltet aber auch eine hohe Zahl anderweitig künstlerisch-kulturell
befaßter Personen (Schauspieler, Maler, Bildhauer, Szenographen, Tänzer,
Autoren, Regisseure usw.). Daß dieser Gesamtbereich relativ stark besetzt
ist, mag daran liegen, daß im Kunst- und Kultursektor traditionell viele
Juden beheimatet sind, die Toleranzschwellen der sowjetischen Gesellschaft
für "abweichendes" Verhalten hier größer waren, sowie Risikobereitschaft
(u.a. zur Migration) und Weltoffenheit stärker ausgeprägt sein mögen als
beispielsweise bei Wissenschaftlern. Letztere sind in Berlin sowohl im
geisteswissenschaftlichen Bereich (z.B. Historiker, Philosophen) als auch im
naturwissenschaftlichen Bereich (z.B. Physiker, Mathematiker, Biochemiker)
nur mit 3 bzw. 4 % vertreten. Möglicherweise rechnen sie sich auch geringere
Arbeitsmöglichkeiten als die Künstler aus.
Die
Geschlechterverteilung
der Migranten auf die
Berufe zeigt ein anderes Bild als für vergleichbare Kohorten in Deutschland
(vgl. Tölke 1987): Wurde hier bis vor wenigen Jahrzehnten noch
traditionellen Rollenmustern gefolgt und führten Heirat und Geburt von
Kindern zum Abbruch bzw. zur langfristigen Unterbrechung der
Erwerbstätigkeit, sind sowohl die jüngeren als auch die älteren Migrantinnen
gut (aus)gebildet. Lediglich bei Geburtskohorten vor etwa 1930 sind Frauen
mit einfachen Fachschulausbildungen stärker vertreten, z.B. im
handwerklichen (Schneiderin) oder administrativen Bereich (Buchhalterin).
Außer für den
asiatischen Teil der südlichen UdSSR zeigen sich räumlich und zeitlich wenig
Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Ausbildung bzw.
generelle Chancenstrukturen, wobei im Zeitverlauf für beide Geschlechter die
Ausbildungsdauer zugenommen hat. Frauen - so auch die jüdischen Migrantinnen
- waren in der Sowjetunion häufig in klassisch "männlichen" Berufen
beschäftigt. Die Berliner Gruppe hat weibliche Elektriker, Mechaniker,
Physiker, Elektronik- oder Flugzeugbauingenieure aufzuweisen. In etwa 15 %
der Fälle ist die Frau darüberhinaus deutlich besser ausgebildet als der
Ehemann; lediglich 33 Frauen (1,4 %) haben keine abgeschlossene
Berufsausbildung. Wie aus den Arbeitsbüchern der Frauen hervorgeht (in denen
sämtliche Erwerbsverhältnisse eingetragen sind), brachte eine Heirat
und/oder die Geburt eines Kindes selten längere Unterbrechungen der
Erwerbstätigkeit. Die sozialistische "Gleichberechtigung" bedeutete so neben
Karrierechancen in aller Regel eine doppelte Belastung durch Beruf und
Familie.
Daß die sowjetischen
Juden insgesamt trotz Zugangsbeschränkungen zu Bildungseinrichtungen
überdurch-schnittlich gut ausgebildet und beruflich positioniert waren und
sich von anderen Ethnien in der UdSSR unterscheiden, zeigt ein Vergleich mit
den deutschen
Aussiedlern
(siehe
Diagramm im Anhang). Die Deutschen waren der restriktiven sowjetischen
Minderheitenpolitik ebenso ausgesetzt, konnten jedoch genau wie die Juden in
den letzten Jahren der Sowjetunion meist ihren angestrebten Berufsweg
einschlagen (vgl.IDDA 69/1995; LaSoz VI D ZABL 1/96; eigene Berechnungen):
Im Gegensatz zu den jüdischen Migranten (30 %) hat der überwiegende Teil der
deutschen Aussiedler eine Fachschule besucht (ca. 71 %), etwa 10 % der
erwachsenen Aussiedler haben keinen Berufsabschluß und der Anteil der
Akademiker (meist technische Sonderkräfte, Ingenieure und Lehrer) liegt mit
etwa 19 % Hoch- bzw. Fachschulabgängern mehr als 2/3 unter jenem der
jüdischen Migranten. Dementsprechend sind bestimmte Berufsgruppen gegenüber
den jüdischen Zuwanderern eher unterrepräsentiert, z.B. Ärzte mit unter 3 %
oder Berufe aus dem Kunst- und Medienbereich mit 1 %. Umgekehrt gibt es bei
ihnen Berufe aus den Sektoren Land- und Forstwirtschaft sowie Bergbau (8 %),
die bei jüdischen Migranten gänzlich fehlen
(34).
Insgesamt
arbeiteten beinahe 3/4 aller Aussiedler in Handwerks- und
Dienstleistungsberufen (ca. 43 %) oder in industriellen, technischen und
Bauberufen (ca. 29 %).
Das Berufs- und
Ausbildungsprofil der Aussiedler ähnelt insgesamt eher dem des sowjetischen
Bevölkerungsdurchschnitts (vgl. Dietz 1990) als dem der jüdischen Gruppe,
dies auch in bezug auf die schlechtere Ausbildung von Vorkriegskohorten und
Aussiedler-Frauen (Bade 1993) (35).
Von den zwischen
1.1.1990 und 30.12.1995 registrierten jüdischen Zuwanderern arbeiteten 2.501
(von 4.006) Personen bis zur Ausreise. Die Gruppe der nicht erwerbstätigen
Migranten setzte sich wie in folgender Tabelle dargestellt, zusammen. Die
Berentung erfolgte in der Sowjetunion früher als in der Bundesrepublik (je
nach Beruf zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr). Andererseits war ein
Großteil der RentnerInnen noch während des Rentenbezugs weiterhin
berufstätig (auch weil die Rente zum Lebensunterhalt oft nicht ausreichte).
Sofern nicht in der Ausbildung, waren daneben über 98 % aller Personen im
(juristisch) arbeitsfähigen Alter auch tatsächlich erwerbstätig, der
überwiegende Teil in seinem erlernten Beruf.
NICHT ERWERBSTÄTIGE
(vor der Ausreise) |
Personenzahl |
noch nicht schulpflichtige Kinder |
85 |
Schüler/in |
442 |
Schulentlassene ohne Berufsrichtung |
24 |
Student (54) / Studentin (33) |
87 |
Auszubildende unter 20 Jahren |
30 |
Hausfrauen (mit Beruf) im arbeitsfähigen Alter |
19 |
invalidisiert im arbeitsfähigen Alter |
23 |
Rentner/in ohne
Tätigkeit zum Zeitpunkt der Ausreise |
795 |
Gesamt 37,5% |
1.505 |
3.1.4 Ethnische Aspekte
"Daß Gruppen von
Menschen, die Gemeinsamkeiten von Kultur besitzen, geschichtliche und
aktuelle Erfahrungen miteinander teilen, Vorstellungen über eine gemeinsame
Herkunft haben und auf dieser Basis ein bestimmtes Identitäts- und
Solidarbewußtsein ausbilden", ist nach Heckmann eine universalistische
Kategorie, für die sich der Begriff der "Ethnizität" anbietet (1992, S.30f).
Das Ethnizitätskonzept verbindet sich mit dem der ethnischen Gruppe: Die
meisten Autoren erzielen Übereinstimmung darin, daß ethnische Gruppen durch
soziokulturelle Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind, sich - je nach
Definition - durch soziale, kulturelle, nationale, linguistische, rassische
oder religiöse Merkmale von anderen ethnischen Gruppen bzw. der Majorität
unterscheiden (vgl. Fischer 1987) und Gemeinsamkeiten geschichtlicher
Erfahrungen, eine auf Selbstbewußtsein und Fremdzuweisung gegründete
kollektive Identität, ein Zusammengehörigkeitsgefühl und wechselseitige
Beziehungen aufweisen (vgl.Heckmann 1992,S.36f). Wichtiger als tatsächliche
bzw. empirisch überprüfbare Gemeinsamkeiten scheint, daß eine
Ethnie/Wir-Gruppe an Gemeinsamkeiten
glaubt,
sich Individuen dieser Gruppe zurechnen und ihr von Mitgliedern wie
Außenstehenden zugerechnet werden (vgl. Hansen 1994), wobei Grenzziehungen
freilich an bestehenden Unterschieden anknüpfen. Trotz des begrenzten Wertes
von z.B. Sprach- oder Religionsausübung für den "Zustand", die
Charakterisierung einer Ethnie sind wir auf derartige Merkmale angewiesen,
da subjektive Zuschreibungen noch weniger faßbar sind und immer nur den
Fokus eines jeweiligen Individuums spiegeln.
Zunächst: Das Judentum
wird nach - immer noch geltendem - sowjetischem Recht nicht als Religion,
sondern als Nationalität definiert (siehe 4.2.2)
(36).
Bei
unterschiedlicher Nationalität der Eltern kann mit dem 16. Lebensjahr (bei
Erhalt eines eigenen Ausweises) für die Nationalität eines Elternteils
optiert werden. Die Mehrheit entscheidet sich für die Nationalität des
nichtjüdischen Elternteils, denn diese Nationalität (der sog. "5.Punkt") ist
in der Geburtsurkunde und im Inlandspaß (Personalausweis) eingetragen und
muß überall angegeben werden (bereits bei der Einführung dieser Pässe Anfang
der 30er Jahre, als die Volkszugehörigkeit noch nach Belieben eingetragen
werden konnte, hatten sich viele Juden als Russen registrieren lassen).
Trotz Auswanderung,
Überalterung und niedrigen Geburtenziffern dürfte die tatsächliche Zahl der
Juden in der früheren UdSSR damit auch höher liegen, als in den
Volkszählungen angegeben: für 1970 waren dies 2,2 Millionen, für 1989 1,8
Millionen (vgl. Mertens 1993,S.34). Jedoch scheint sich die Gruppe in 70
Jahren Sowjetmacht auch "innerlich" mehr und mehr vom Judentum gelöst zu
haben. Die sowjetische Nationalitätenpolitik, der jahrzehntelange
dogmatische Atheismus, die Abwanderung von Juden aus ihren angestammten
Gebieten in die großen Industriezentren führten zu Kultur- und
Identitätsverlusten und zu einer Assimilation an die jeweilige Umgebung.
Die Juden gelten als
die mit Abstand
sprachlich
am
stärksten russifizierte Ethnie in der UdSSR. Die o.g. Faktoren, die
Schließung jüdischer Schulen und die starke Beschränkung jiddischsprachiger
Publikationen führten sukzessive zur Übernahme der russischen Sprache und zu
einem Verlust des Jiddischen, der Sprache des Großteils der sowjetischen
Juden (37).
1897 hatten noch 96,9
% aller Juden im zaristischen Rußland Jiddisch als ihre Muttersprache
angegeben (Mertens 1993, S.49). Bei der Volkszählung von 1926 erklärten
immerhin noch 70 % der sowjetischen Juden, daß Jiddisch ihre Muttersprache
sei, 1959 waren es 21 %, 1970 17,7 % und 1979 nur noch 14 % (Vetter
1992,S.33). Nur die sog. (kaukasischen) Bergjuden - die Tat - sprechen bis
heute zu 87 % Tat, ihre gleichnamige Sprache. Für 83 % aller Juden war 1979
jedoch Russisch die Erstsprache (38).
Zum Vergleich
sei die deutsche Minderheit genannt, die nur zu 42,6 % Russisch als
Muttersprache angab (Mertens 1993, S.50).
Die nach Deutschland
migrierten sowjetischen Juden spiegeln dieses Bild sehr genau wider. Während
die kaukasischen Juden, sofern sie aus kleineren Orten stammen, Tat und
Russisch sprechen, spricht die Majorität der eingereisten europäischen Juden
ausschließlich Russisch. Je nach Republik, aus der die Personen kommen, sind
darüberhinaus Grundkenntnisse des Ukrainischen, Lettischen usw. vorhanden.
Jiddisch-Kenntnisse fehlen bei den etwa bis 60jährigen Migranten fast
völlig. Nur unter den Älteren spricht ein erheblicher Teil Jiddisch, häufig
aber, ohne es schreiben oder lesen zu können. Die vor dem 2.Weltkrieg
Geborenen bringen neben dem Jiddischen oft generell mehr Sprachkompetenzen
mit, da sie in meist noch ausschließlich jüdischen Familien aufgewachsen
sind, ihre Herkunftsgebiete z.T. erst spät an die Sowjetunion fielen und die
sowjetische Vorkriegsgesellschaft offener nach außen war als nach dem Krieg.
Ein 75jähriger Migrant
erzählt:
"Mein
Vater war ein gläubiger Mann. Ich mußte schon als kleines Kind die
hebräischen Texte lernen. Zu Hause wurde Jiddisch und auf der Straße
Polnisch gesprochen, bis unser Städtchen russisch wurde. Deutsch hab ich vor
dem Krieg im Gymnasium gelernt. Ich kenne alle Gedichte von Schiller.
[..]
Mit meiner Frau
ist es schlimmer, sie spricht jiddisch und denkt, es ist deutsch und alle
müssen sie verstehen.
[..]
Mit der Frau
spreche ich aber auch meist russisch, schon wegen der Kinder. Der Sohn hat
doch eine Goje
[Nichtjüdin]
geheiratet.
Jiddisch reden wir nur, wenn sie nichts verstehen sollen."
(Moisse)
Eheschließungen
mit
Nichtjuden sind sicher Mitursache für die sprachliche Assimilierung der
sowjetischen Juden; sie spiegeln gleichzeitig die Anpassungsbestrebungen an
die Majorität und den Verlust einer "jüdischen Eigenbewußtheit" wider. Schon
in den 60er Jahren heirateten je nach Unionsrepublik zwischen 23 und 35 %
aller sowjetischen Juden nichtjüdische Ehepartner und 1992 lebten
beispielsweise 45 % der St.Peterburger Juden in interkulturellen Ehen (
Mertens 1993,S.61f) (39). Die Ehen mit
Nichtjuden, die jahrzehntelange staatliche Diskriminierung aller originär
jüdischen Bereiche sowie der Weggang gläubiger Juden nach Israel prägten
auch die
religiöse
Situation (40).
Umfragen in der
Sowjetunion der 80er Jahre zeigten, daß sich nur noch 7 % der befragten
Juden als religiös einschätzten (die in den 70er Jahren nach Israel
Ausgewanderten hatten sich zu über 46 % als religiös bezeichnet); über die
Hälfte beachtete keine religiösen Gesetze mehr, 1/5 ging ab und zu in die
Synagoge (Mertens 1993, S.63ff). Trotz der Liberalisierung der Gesellschaft
seit Gorbatschow treffen all diese Erscheinungen auch auf die nach
Deutschland gekommenen Juden zu. Die Berliner Migrantengruppe weist eine
hohe Zahl interethnischer Familien auf; über 30 % aller neuzugewanderten
Mitglieder der Jüdischen Gemeinde haben nichtjüdische Ehepartner
(41).
Da viele durch
eine bereits unterschiedliche ethnische Zugehörigkeit ihrer Eltern nach
halachischem Recht nicht mehr jüdisch sind und nicht Gemeindemitglieder
werden konnten, liegt der Gesamtanteil gemischter Familien noch weitaus
höher (vermutlich bei etwa 50 %).
Wie Mertens
(1993,S.66) schon für die Sowjetunion anmerkt, ist ein Indiz für die
religiöse Loslösung auch die nicht mehr durchgeführte
Brith Mila
(Beschneidung männlicher Kinder), die nach jüdischem Gesetz als
unabdingbares äußeres Zeichen des Bundes mit Gott gilt. Dieser Trend
bestätigt sich bei den Berliner Migranten (die bei ihrer Gemeindeaufnahme
danach befragt werden): Während fast alle Geburtsjahrgänge bis etwa
Kriegsanfang noch beschnitten sind, sinkt die Zahl Beschnittener in späteren
Kohorten fast auf Null, außer bei einem kleinen Teil der Migranten aus den
westlichen Randgebieten (z.B. Riga, Tschernowzy) sowie bei jenen aus
ländlichen Regionen des Kaukasus und Mittelasiens, die noch stärkere
religiöse Bindungen haben.
Ein zusätzlicher,
plastischer Beleg für die Russifizierung und Sowjetisierung, aber auch für
ein bewußtes "Verschwinden in der Masse" sind die
Vornamen
der jüdischen
Migranten: Aus der Auswertung der Fragebögen geht hervor, daß sich
(auffällige) hebräische Namen (z.B. Isaak, Abraham) fast ohne Ausnahme nur
bei Zuwanderern finden, die vor Ende des Krieges geboren wurden; gleiches
gilt für jiddische Namen (z.B. Bluma, Feiwel)
(42).
Die starke
Eingebundenheit in die Gesellschaft zeigt sich bei solch ideologisch
bedingten Vornamen wie Marx, Lenina (weibliche Vornamensvariante von Lenin;
bzw. ihre Umkehrung 'Ninel') oder Kima (Abkürzung für Kommunistische
Internationale Jugend), die jedoch nur bei in den 20er bis 30er Jahren
Geborenen auftreten, als es im Zuge des Aufbaus und der Aufbruchstimmung
durchaus auch üblich war, eine Tochter Traktora oder einen Sohn Oktjabr
(nach dem Revolutionsmonat) zu nennen (43).
Die Hoffnung,
mit dem Sozialismus zur einer Gleichstellung zu gelangen, die Verbundenheit
mit der sowjetischen Geschichte und die Annäherung an das politische und
gesellschaftliche System, zeigt sich mehr als an Namen an dem recht hohen
Anteil von Juden in
politischen
Organisationen
(vgl. Mertens 1993,
u.a. S.49f). Die fast zwangsweise Involviertheit, verbunden mit
Aufstiegswünschen, beschreibt die 34jährige Ira:
"Ich war im
Komsomol, weil ich studieren wollte. Ohne Komsomol ging das nicht und schon
gar nicht als Jüdin. Mein Onkel war Parteisekretär. Meine Oma war die
Vorsitzende vom Ortskommitee für die Kriegshelden, weil sie bei den
Partisanen war, gegen die Deutschen gekämpft hat. Meine Mutter hat geweint,
als Stalin gestorben ist. Alle haben irgendwo mitgemacht, wenn sie nicht
gerade Refusniks waren. Die Älteren hatten irgendwelche Ideen dabei, wir
sind nur noch hinterhergelaufen.
[..]
Wir wollten wie
alle sein. "
Insgesamt kann bei den
sowjetischen Juden von einer starken Lockerung bzw. Loslösung der
individuellen Bindung an die eigene ethnische Gruppe und einer Annäherung an
die majoritäre Umgebung ausgegangen werden, die sich in all den o.g.
Faktoren - Verlust der Muttersprache, Zunahme interethnischer Ehen, Abnahme
religiöser Aktivitäten, Anteil an Partei-Mitgliedschaften widerspiegelt.
Auch die Migranten der 90er Jahre, die Mitglieder der "Vierten Welle",
kennzeichnet dieses schwach ausgeprägte ethnische und religiöse Bewußtsein.
Sie sind insofern kaum als Repräsentanten einer homogenen Gruppe mit
spezifisch jüdischer Kultur zu sehen, sondern zeigen alle ethnischen und
kulturellen Besonderheiten ihrer jeweiligen Herkunftsumgebung.
(44)
Eine mögliche grobe
Unterscheidung ist zwischen europäischen und (den wenigen) orientalischen
Juden zu ziehen. Wie erwähnt, sind unter den kaukasischen und
mittelasiatischen Juden im Durchschnitt interethnische Ehen seltener, ist
die Geburtsrate höher, das Leben in Familienverbänden häufiger, die
traditionell-religiöse Gebundenheit stärker, das Bildungsniveau etwas
niedriger und Russisch als Muttersprache seltener als bei den europäischen
Zuwanderern (45).
Dennoch soll darauf
hingewiesen sein, daß o.g. Tendenzen der Assimilation - die in der Literatur
fast einhellig als Spezifikum der sowjetischen Juden betont werden, diese
häufig auch als Vorwurf treffen (siehe 5.3.) und ihnen Probleme hinsichtlich
ihrer hiesigen Identität bereiten (siehe 4.2.2) - für das gesamte
Diaspora-Judentum gelten (46).
Es ist
ausgesprochen heterogen und rekrutiert sich aus unterschiedlichen sozialen,
regionalen und kulturellen Zusammenhängen; religiöse Bindungen und
intraethnische Ehen sind weltweit rückläufig und Diaspora-Juden
unterscheiden sich häufig kaum noch durch ethnische, linguistische oder
soziale Merkmale von der jeweiligen Majorität
(47).
3.5 Zusammenfassende Diskussion
Mit der
Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Kapitels sollen zugleich Zusammenhänge
zwischen Herkunftskontext/Sozialstruktur und Migration in bezug auf die
jüdischen Migranten diskutiert werden. Wagner (1989) belegte, daß die
regionale
Herkunft
(durch dort verfügbare Positionen, Rollen und Ressourcen) sowie
frühere
Wanderungen
(im Sinne eines
Lernprozesses und geringerer lokaler Bindungen) einen positiven Effekt auf
die weitere Mobilität haben.
Beide Merkmale können
auch bei den jüdischen Migranten eine Rolle für die Emigration gespielt
haben. Es muß jedoch eingeschränkt werden, daß die regionalen
Gelegenheitsstrukturen sich für die Mehrzahl der sowjetischen Juden ähneln,
da sie generell meist in Städten und im europäischen Teil der früheren UdSSR
leben und Daten über die Nichtwandernden nicht vorliegen. Es zeigte sich
zumindest, daß 2/3 der Migranten frühere, z.T. wiederholte Binnenmigrationen
absolviert haben und daß die Migranten hauptsächlich aus den größten Städten
und den Haupstädten zugezogen sind, in denen Informationsmöglichkeiten und
zur Ausreise notwendige Institutionen und Beziehungsnetze am ehesten
vorhanden sind. Eine weitere intervenierende Variable stellt offenbar die
Distanz zwischen Herkunftsregion und Zielregion dar. Die geographische Nähe
von Teilen Rußlands, der Ukraine und des Baltikums sowie kulturelle und
sprachliche Affinitäten haben zum verstärkten Zuzug von Personen aus diesen
Regionen beigetragen, während proportional weitaus weniger Juden aus sehr
weit entfernten Regionen (Mittelasien) migriert sind als dort leben; diese
Gebiete mußten zudem im 2.Weltkrieg nicht verlassen werden, sind weniger
urbanisiert und weisen sozial wie kulturell starke Unterschiede zum
europäischen Gebiet auf. Lebensbeeinträchtigende Ereignisse und
Entwicklungen in bestimmten Regionen (z.B. die Bürgerkriege im Kaukasus)
sind jedoch ein Grund, daß auch Migranten aus relativ weit entfernten
Gebieten verstärkt zuziehen. Für den näheren (europäischen) Teil der
Sowjetunion sind solche Geschehnisse z.B. das Reaktorunglück in Tschernobyl
oder Repressalien gegen Juden nach der Neugründung der baltischen Staaten
(Verweigerung der Staatsbürgerschaft etc.). Derartige nichtberufsbedingte
Wanderungsgründe und u.U. geringere lokale und soziale Bindungen durch
vorherige Migrationen sind Mitursachen dafür, daß nicht von einer
altersspezifischen jüdischen Migration ausgegangen werden kann. Die zentrale
These des humankapitalistischen Ansatzes, nach dem Migrationen Investitionen
darstellen und sich aus individueller Sicht am Beginn des Erwerbsverlaufs,
also bei jungen Menschen am ehesten lohnen und nach dem 3. Lebensjahrzehnt
selten eine Region zum Ziel haben, die eine wesentlich andere Struktur
aufweist, kann für die jüdische Migrantengruppe nicht bestätigt werden.
Korrespondierend mit der
Altersstruktur
der Ethnie
in der Sowjetunion sind die am stärksten vertretene Gruppe die 41 -
50jährigen und die Gesamtgruppe weist mit 27 % über 60jähriger in Berlin und
23 % im Bundesdurchschnitt einen auffällig hohen Anteil Betagter und Älterer
auf. Während andere Ausländer im späteren Lebensalter häufig in ihre Heimat
zurückkehren bzw. nicht mehr einreisen, entschließen sich viele jüdische
Migranten erst in diesem Alter auszuwandern. Für diesen Tatbestand spielt
nicht nur die Situation in der früheren Sowjetunion, die neue Reisefreiheit
und das Vorhandensein bereits vorher ausgereister Verwandter eine Rolle,
sondern ebenso die soziale und ausländerrechtliche Absicherung der Gruppe,
die für andere Ausländer in der Bundesrepublik in dieser Form nicht gegeben
ist.
Daneben zeigt die
Migrantengruppe einen fast identischen Altersaufbau mit den in der früheren
Sowjetunion verbliebenen Juden. D.h. es haben sich nicht bestimmte
Altersgruppen auf den Weg gemacht, sondern innerhalb kürzester Zeit gesamte
Verbände familiär, sozial oder örtlich verbundener Personen mit all ihren
Generationsfolgen (48).
Nur in der
1.Phase kamen signifikant mehr jüngere als alte Menschen, die sich in ihrer
sonstigen demographischen Struktur (Kinderzahl, Beruf, regionale Herkunft)
aber nicht wesentlich von den später gekommenen Migranten unterscheiden.
Jedoch besteht allgemein in bestimmten Phasen des
Lebenszyklus
(hier im
Sinne der Strukturiertheit in familäre und berufliche Phasen) eine erhöhte
Wanderungsbereitschaft bzw. Mobilitätshemmung. Markante Punkte im
Lebenszyklus haben auch bei einzelnen Personen die Migration bzw. den
Zeitpunkt der Einreise bestimmt, jedoch ist der Zusammenhang insgesamt
relativ schwach. Er zeigt sich bei Personen, die kurz nach dem Schulabschluß
oder der Berentung stehen, zum Wehrdienst eingezogen werden sollen, kürzlich
geschieden wurden (meist 35 - 50jährige) oder ihren (meist männlichen)
Ehepartner verloren haben; dementsprechend etwas schwächer/ stärker sind die
entsprechenden Jahrgänge besetzt. Lediglich die Geburt von Kindern als
Familienzyklusereignis scheint eine stärkere mobilitätshemmende Wirkung zu
haben. Mangels Daten zu aktuellen Geburtenraten der Nichtausgewanderten und
angesichts der insgesamt geringen Fertilität sowjetischer Juden, ist dies
zwar nicht sicher entscheidbar, jedoch anzunehmen, da auffällig weniger
Familien mit Säuglingen oder Kleinkindern als mit älterenKinder eingereist
sind.
Die insgesamt recht
starke Überalterung der Gruppe bedeutet jedoch nicht, daß die Migration
nicht auch einer (erwarteten) sozialen Aufwärtsmobilität dient. Da die
Migranten wie die jüdische Ethnie in der UdSSR insgesamt
überdurchschnittlich hoch gebildet sind (und auch hier keine
Vergleichsmöglichkeiten zu entsprechenden Nichtgewanderten bestehen), läßt
sich schwer entscheiden, ob das
Bildungsniveau
einen
positiven Einfluß und eine gute
berufliche
Position
einen negativen Einfluß auf die Migration hatte, wie zahlreiche Studien der
Migrationsforschung belegen (vgl.Wagner 1989). Wie ausgeführt, sind die
Migranten zu über 2/3 Akademiker; Männer und Frauen, Junge und Ältere sind
gleichermaßen gut ausgebildet. Das Bildungsniveau und die Berufsstruktur
wurde durch mehrere, sich z.T. wiederum gegenseitig bedingende Faktoren
begünstigt: die
soziale
Herkunft (die
Eltern waren i.d.R. selbst gut ausgebildet und beruflich positioniert; die
Kinder haben häufig ähnliche Berufe wie die Eltern);
regionale
Herkunft
(aus gut urbanisierten Gebieten und Großstädten);
räumliche
Mobilität
(Migrationen mit den Eltern in frühen Lebensphasen; Verlassen des
Herkunftsgebietes zu Studien und Arbeitszwecken aufgrund individueller
Chancen bzw. regionaler Disparitäten);
traditionelljüdisches Bildungsverständnis
(eine gute Ausbildung
als Grundlage für gesellschaftliche Akzeptanz und angemessene
Lebensführung); Weiterbestehen spezifischer
tradierter
Berufswünsche
(im akademischen
Bereich z.B. Arzt, im nichtakademischen Sektor z.B. Schuster);
sozialgesellschaftlicher Wandel
(Zunahme von
industriellen/technischen Hochschulberufen; ähnliche Ausbildung von Männern
und Frauen).
Im Zusammenhang mit
diesen Faktoren sind lokale Bindungen vermutlich auch schwächer geworden und
Ansprüche an soziale und berufliche Positionen höher. Zunächst ist jedoch
kein direkter Zusammenhang zwischen beruflicher Position und (Fern)Migration
erkennbar. Die Migranten hatten überwiegend gute berufliche Stellungen
(Chef-ärzte, Kombinatsdirektoren, leitende Angestellte) und einen für die
UdSSR vergleichsweise hohen Sozialstatus und verschlechtern sich hier mit
wenigen Ausnahmen maßgeblich. Allerdings zeigten die angegebenen
Ausreisemotive, daß es auch subjektive Spannungen zwischen tatsächlicher
Partizipation an sozialen Gütern und Ansprüchen gab und vor allem die
Erwartung, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen mit der Migration zu
erreichen.
Zusätzlich dürfte die
Verwirklichung der Migration begünstigt haben, daß viele Migranten durch
ihre berufliche Positionierung und ihre Flexibilität über nützliche
Beziehungsnetze verfügten und materiell eher privilegiert waren
(49).
Anders als bei
Nahwanderungen ist der Einfluß finanzieller Ressourcen auf Fernwanderungen
nicht empirisch belegt (vgl.Wagner 1989, S.103). Dennoch ist plausibel und
erwiesen, daß die Emigration aus der Sowjetunion mit mehrfachen Reisen zu
den oft weit entfernten Botschaften, mit Fahrt- und Transportkosten, mit
Bestechungsgeldern für einen Platz am vorderen Ende der Warteschlange zur
Ausreise oder für den Erhalt von Papieren (Diplome, Urkunden,
Arbeitsbescheinigungen, Visa, Pässe usw.) verbunden ist. So scheint es eine
Selektivität der Migration zu geben, die sich an der Position der Migranten
im sowjetischen Verteilungsnetz mißt. Die defizitäre sozialistische Plan-
und Schattenwirtschaft, in der es viel zu erlauben und wenig zu verteilen
gab, erzeugte u.a. informelle Umverteilungsstrukturen im institutionellen
wie privaten Bereich, die für das individuelle Überleben wohl auch notwendig
waren und bis heute weiterfunktionieren (50).
Der
ethnischen
Komponente
- dem Umstand des Jüdisch-Seins - kommt in mehrfacher Hinsicht Bedeutung zu.
Für einen Teil der Zuwanderer war sie der Ausreisegrund infolge einer
Bedrohungswahrnehmung.
Gleichzeitig stellt
die Zugehörigkeit zur jüdischen Ethnie die Möglichkeit zur Migration dar,
entfaltet eine starke Sogwirkung, verstärkt im Gegensatz zu
"jüdischorientalisch" sozialisierten Personen bei "jüdisch-deutsch" bzw.
"europäisch" geprägten Menschen den Wunsch zur Ausreise nach Deutschland und
ist letztlich für etliche der o.g. typischen Merkmale sowjetischer Juden
zuständig (51):
hohe Urbanität und Mobilität, hohes Bildungsniveau, geringe Fertilität,
Überalterung. Inwieweit diese Faktoren ein Einleben in der Bundesrepublik
(z.B. gegenüber Aussiedlern mit ihrem jüngeren Altersdurchschnitt, der
Herkunft aus kleineren Orten, nichteuropäischen Regionen und einem
niedrigeren Bildungsniveau) erleichtern oder erschweren, werden die nächsten
Kapitel zu beantworten versuchen.
Obwohl das "Jude-Sein"
ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl beinhaltet oder fördert und die
soziodemographischen Faktoren zusammengenommen bestimmte Charakteristika
aufweisen, kann kaum von einer homogenen Gruppe ausgegangen werden. Die
Migranten kommen aus den unterschiedlichsten Regionen eines
Vielvölkerstaates, der bis 1991 noch fast fünfmal größer als das restliche
Europa war. Sie sind trotz insgesamt starker "Russifizierung/Sowjetisierung"
durch verschiedene Umgebungskulturen, Landschaften, Orte, Lebensweisen,
Berufe und Familienstrukturen geprägt.
In bezug auf den
eigentlichen Umstand der Migration und die Migrationsentscheidung kann der
jüdischen Migration bzw. den Migranten trotz einiger ähnlicher
Ausgangsbedingungen ebenfalls kaum eine gemeinsame Ursachen- und
Motivstruktur zugesprochen werden. Die Mobilität der Migranten verbindet
soziale, räumliche und zeitliche Dimensionen, sie ist mit ihrer regionalen
und sozialen Herkunft, je individuellen Alters- und Familienbedingungen,
lebenslaufbedingten Erfahrungen und Handlungsressourcen verknüpft, ebenso
wie mit makrostrukturellen Faktoren, individuellen Kognitionen und
Motivationen.
Es konnten einige
mobilitätsförderliche bzw. -hinderliche Faktoren aufgezeigt, letztlich
jedoch nicht geklärt werden, welche Faktorenkonstellationen individuell zur
Ausreise geführt haben (u.a. weil Migrationsentscheidungen stark von
psychologischen Faktoren beeinflußt sind, die oft nicht bewußt und schwer
erfaßbar sind (52)). Es kann lediglich
die Annahme erhärtet werden, daß sich Migrationsursachen bzw. -motive auch
bei der jüdischen Gruppe zum einen nicht auf grobe Zweiteilungen reduzieren
lassen (z.B. auf wirtschaftliche
oder
politische Gründe,
freiwillige
oder
unfreiwillige
Migration) und zum anderen nicht auf ausschließlich individuelle/subjektive
(vgl. Esser 1980) bzw. umgekehrt kollektive/ objektive Entscheidungsprozesse
und Ursachen (vgl. Hoffmann-Nowotny 1973) zurückgeführt werden können.
Persönliche,
sozio-ökonomische und politische Gründe einerseits sowie außerhalb und
innerhalb der Person liegende Wanderungsursachen bzw. -motive andererseits
sind auch in der jüdischen Gruppe vielfach verquickt. Motive, Erwartungen
und Entscheidungen der Migranten wurden z.B. von denen anderer Personen und
von diversen äußeren Bedingungen (Stichtage, Kosten, Entfernung, Bürgerkrieg
usw.) mitbestimmt. Andererseits waren es nicht nur "externe" Faktoren oder
Rationalität, sondern eben auch persönliche Dispositionen und "interne"
Attributionen (bei hoher Unsicherheit zudem beeinflußt von sozialer
Erwünschtheit, Konformität, Angst, kognitiver Dissonanz etc.), die zur
Wanderung geführt haben und mit dafür zuständig sind, daß Schub- und
Sogfaktoren unterschiedlich bewertet werden, ein Teil der Ethnie das Land
verlassen hat, während andere, die unter ähnlichen äußeren Bedingungen
lebten, geblieben sind oder weiter abwarten.
Unabhängig davon
ändert sich mit einer solchen Wanderungsbewegung zwangsläufig auch die
sozial-räumliche Zusammensetzung von Herkunfts- und Zielgebiet. In einigen
Regionen der ehemaligen Sowjetunion ist die jüdische Bevölkerung durch den
Exodus inzwischen stark ausgedünnt, was sich für den dortigen Erhalt der
Juden als Ethnie negativ auswirkt, aber auch auf die Gesamtsituation in der
Sowjetunion, bedenkt man die hohe berufliche Qualifizierung und
Spezialisierung vieler Juden. Die sukzessive Abwanderung einer Gruppe, die
in der Sowjetunion Ende der 70er Jahre noch 1/8 aller Forscher stellte
(Mertens 1993), erzeugt schwerwiegende qualitative und quantitative Mankos
für die Gesellschaft der ehemaligen Union, für ihre Ökonomie und den
allgemeinen Zustand der entsprechenden Regionen. Andererseits führt der
Exodus sowjetischer Juden führt besonders in Israel zur Überpräsenz dieser
Gruppe, die aber auch im Mikrokosmos der deutschen Jüdischen Gemeinden
erhebliches Gewicht gewonnen hat und deren Bild verändert. Wenn sie in der
Bundesrepublik im Gesamtmaßstab kaum auffällt, reiht sie sich doch in eine
Vielzahl anderer Immigrationsbewegungen ein, die in ihrer Gesamtheit einen
Spannungsaufbau fördern und die Chancen des Einzelnen in der neuen Umgebung
sinken lassen.
Anmerkungen:
(18)
Ein Vergleich mit den
Zuzugsorten der Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre eingewanderten
sowjetischen Juden (aus der allgemeinen Mitgliederdatei der Jüdischen
Gemeinde zu Berlin) zeigt zwei deutliche Unterschiede zur heutigen
Situation: die größte Zuwachsrate verzeichnet Dnepropetrowsk, das damals
kaum eine Rolle als Herkunftsort spielte; und Odessa - heute an 6.Stelle -
war die Stadt, aus der die meisten Zuwanderer kamen.
(19)
Die hohe Konzentration
in einigen Landesteilen ist nach Ansicht von Mertens (1993, S.40) immer noch
Auswirkung der restriktiven Siedlungspolitik für Juden im zaristischen
Rußland, mit Ausnahme des erst später annektierten Baltikums. Die urbane und
meist europäische Herkunft der sowjetischen Juden wird auch in der
Untersuchung der IRG in Stuttgart für die dortigen Zuwanderer bestätigt,
wobei der Anteil der ukrainischen (67%) und moldawischen (10 %) Juden
insgesamt höher als in Berlin liegt (1994,S.8f).
(20)
"Ashkenasim" waren
ursprünglich die aus dem deutschen Raum nach Osteuropa geflüchteten Juden.
Als "Sephardim" wurden die Juden bezeichnet, die ihre Wurzeln auf der
Iberischen Halbinsel hatten; aufgrund ähnlicher religiöser Riten werden die
Juden aus kaukasischen und asiatisch-arabischen Regionen heute ebenfalls
unter der Bezeichnung "Sephardim" geführt. Sie setzen sich zusammen aus
"Bucharim" (in Usbekistan lebenden Juden), "Grusinim" (Juden aus Georgien)
und "Kawkasim"/ Bergjuden bzw. "Tat", die im Nordkaukasus, in Dagestan und
Tschetschenien leben. Die Juden aus Aserbaidshan (vor allem Baku) und
Tadshikistan sind i.d.R. keine Sephardim; sie bzw. ihre Eltern flüchteten
nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 aus der Ukraine und
Rußland in diese Regionen.
(21)
Die o.g. 80 % ergeben
sich aus der Zahl der Antragsteller unter den Migranten der Berliner
Jüdischen Gemeinde bei der Stiftung "Hilfe für Opfer der
nationalsozialistischen Willkürherrschaft", die Beihilfen für diesen
Personenkreis (Geflüchtete und Evakuierte aus den okkupierten Gebieten; KZ-
und Ghetto-Häftlinge) zur Verfügung stellt.
(22)
Die Aussiedler kommen
hauptsächlich aus Kasachstan (in Mittelasien), wo sie (neben Sibirien)
während der StalinÄra zwangsangesiedelt wurden. Rund _ aller Deutschen -
fast 1 Million Menschen - lebten noch 1989 hier; Anfang 1993 waren es nur
noch 696.000 Personen (vgl. Eisfeld 1993). Aus dieser Republik und den
umliegenden Regionen stammen 69 % aller Spätaussiedler aus der UdSSR in
Deutschland; aber nur 2,5% aller Juden (IDDA 1995, Nr.69,S.7; eigene
Berechnung); die zweite Stelle nimmt Rußland mit 28 % (bei den Juden 34 %)
ein. Besonders eklatant ist die Differenz zwischen beiden Gruppe im Fall der
Ukraine: Lediglich 1,5 % der Deutschen, jedoch 39 % der Juden kommen aus der
Ukraine. Andere Herkunftsgebiete (Baltikum, Kaukasus, Moldawien,
Weißrußland) sind bei den Deutschen kaum vertreten (jeweils unter 1 %)
gegenüber 24 % bei den jüdischen Migranten.
(23)
Daß der
Bevölkerungsanstieg der orientalischen Juden dabei im Vergleich zu den
osteuropäischen Juden relativ hoch ist, liegt am geringeren
Bevölkerungsverlust des asiatischen Teils der Sowjetunion durch den 2.
Weltkrieg sowie der höheren Geburtenrate der orientalischen Juden, die zudem
insgesamt geringer urbanisiert sind (vgl. Mertens 1993,S.43). Ab Mitte der
70er Jahr trug die massive Auswanderung meist jüngerer Menschen zur weiteren
Veralterung der verbleibenden Gruppe bei.
(24)
Die
Einbrüche in der Pyramide sind möglicherweise durch die Folgen der
Oktoberrevolution (Geburtsjahrgänge um 1920), den deutschen Überfall auf die
Sowjetunion (Geburtsjahrgänge 1942-1944) und die bisherige Nichteinreise von
Personen, die z.Zt. am Ende ihrer Ausbildung stehen (Jahrgänge um 1973),
erklärbar.
(25)
Schmelz bestätigt die
höhere Fertilität orientalischer Juden in der UdSSR, die dort aber nur 6,5 %
aller Juden ausmachen (1980, S.101).
(26)
In der Potsdamer
Gemeinde liegt der Anteil der über 60jährigen sogar bei 30 %; häufig handelt
es sich um Migranten, die im geregelten Verfahren zu ihren Kindern nach
Berlin wollten, eine Zuzugsgenehmigung jedoch nur für das angrenzende
Bundesland erhielten.
(27)
Die älteren Aussiedler
sind möglicherweise zur Migration auch (gesundheitlich und psychisch)
weniger in der Lage als die jüdischen Migranten: ihre Herkunft aus
ländlichen und asiatischen Regionen und ihre landwirtschaftlichen und
handwerklichen Berufe lassen härtere und auch klimatisch andere
Lebensbedingungen als bei den älteren Juden vermuten. Damit verbunden,
dürften die stärkere Ortsverwurzelung und die größere Entfernung vom
Herkunftsort nach Deutschland weitere Barrieren darstellen.
(28)
Die Parallelen in der
Berufsstruktur zum Diaspora-Judentum wurzeln in der länderübergreifenden,
ursprünglich religiös begründeten Bildungsrolle im Judentum, Unterschiede
vor allem in unterschiedlichen Wirtschafts-/Gesellschaftsstrukturen sowie
Bildungschancen für Juden in der UdSSR: Da für die Bundesrepublik keine
repräsentativen Daten vorliegen, sei die Schweiz genannt (nach Schmelz 1983,
S.97f): Dort sind über 1/3 aller Juden in den Bereichen Management und
Gewerbe beschäftigt, eine Zahl, die aufgrund o.g.Faktoren viel höher liegt
als bei den sowjetischen Juden. Ähnlich niedrig wie in der Sowjetunion ist
der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Juden (0,2 %) sowie der in der
industriellen/gewerblichen Produktion Beschäftigten (5,6 %). Ebenso relativ
hoch wie in der UdSSR ist der Anteil der schweizer Juden im medizinischen
Bereich (6,9 %), in wisssenschaftlichen/künstlerischen Feldern (8,0 %) und
in der Verwaltung (26 %). Höhere technische Berufe sind im Vergleich zu den
sowjetischen Juden (Gründe siehe Text) mit 5,8 % stark unterrepräsentiert.
(29)
Die rechtsradikale
Sammlungsbewegung "Pamjat" verlangt so auch die "Abschaffung des
privilegierten Status der Juden", da bei den "Russen auf 1000 Menschen 17
mit höherer Bildung kämen, bei den Juden aber 600", womit sie "alle
gesellschaftlich wichtigen Bereiche dominierten" (zit.n. Vetter, 1992,S.37).
(30)
Mangels Daten für die
BRD, sei zum Vergleich nochmals auf die Schweiz verwiesen: 22,7 % aller
jüdischen Männer über 30 und 32,6 % der Frauen haben eine "höhere Schule"
besucht, 21,9 % der Männer und 14,6 % der Frauen eine Universität; bei der
Schweizer Gesamtbevölkerung waren es im ersten Fall 8,8 % bzw. 9,0 % und im
letzteren 9,6 % bzw. 3,6 % (Schmelz 1983, S.94).
(31)
1939 waren 41 % aller
sowjetischen Juden Angestellte bzw. in freien Berufen tätig (Friedmann 1993,
S.43)
(32)
Mertens erwähnt so z.B.
einen Erlaß der Leningrader Parteiführung aus den 70er Jahren, nach dem "an
der Leningrader Universität keine Juden, Halbjuden oder Personen, die
jüdisch aussähen (sic!), zum Studium zugelassen werden dürften." (1993,
S.47).
(33)
In Israel machen die
Ingenieure ebenfalls die größte Berufsgruppe bei den Einwandern aus, gefolgt
von Architekten, Ärzten, medizinischem Personal, Technikern und Lehrern
(vgl.Bade/Troen 1993, S.46f).
(34)
Weder in dieser noch in
anderen, hier genannten Erhebungen für die BRD sind jüdische Migranten zu
finden, die einen landwirtschaftlichen Beruf erlernt haben. Während es im
zaristischen Rußland noch viele jüdische Kleinbauern gab, die im Zuge von
Pogromen, Verarmung und Landflucht in die Städte zogen, gelang es dem
Sowjetstaat später nie, Juden wieder im größeren Rahmen in der
Landwirtschaft anzusiedeln. 1926 betrug der Anteil an landwirtschaftlich
tätigen Juden 6 % (Beth Hatfutsoth 1983), erreichte 1930 die höchste
Ausprägung mit 11 % (Vetter 1992,S.16) und sank danach wieder stark ab, von
6 % 1939 auf heute unter 1 % (Friedmann 1993, S.43).
(35)
Bei den Deutschen
dürfte u.a. die geringere Erschließung der asiatischen Republiken, aus denen
die meisten kommen, ihre Herkunft aus kleineren Orten und die relative
Orientierung an traditionellen Berufen der Ethnie (Handwerk, Landwirtschaft)
eine Rolle für eine andersgeartete Berufsstruktur als bei den Juden spielen
(siehe 3.5).
(36)
Zur Problematik der
Abgrenzung der Konzepte von "Nationalität" vgl.Estel 1993; ebd. auch die
multifaktorielle Definition Stalins: "Eine Nation ist eine historisch
entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage
der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und
der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen
Wesensart"(S.39).
(37)
Ähnliches gilt für
Iwrith (Neuhebräisch), das innnerhalb der anfänglichen Ausreisebewegung als
Muttersprache gesehen wurde, als Vorbereitung auf die Migration gelernt
wurde und dessen Unterrichtung z.T.strafrechtlich verfolgt wurde (Mertens
1993, S.57f).
(38)
Sprachen der anderen
Nationen als Muttersprache nannten nur 3 % aller sowjetischen Juden - ein
Wert, der (außer bei den Russen selbst natürlich) im ersten Fall weit über
(14,4 %) und im letzteren Fall weit unter dem Unionsdurchschnitt aller
anderen Gruppen (36,2 %) liegt (Mertens 1993, S.49f).
(39)
Einige Autoren gehen
davon aus, daß sogar nur 10 - 20 % aller sowjetischen Juden in rein
jüdischen Familien leben. Interessant ist, daß dabei Männer eher
nichtjüdische Frauen (über 1/3) als Frauen nichtjüdische Männer (unter 1/4)
heiraten (ebd.,S.61) - ob dies an einer stärkeren Bindung der Frauen an das
Judentum bzw. an dem stärkeren Einfluß der Eltern auf ihre weiblichen als
auf ihre männlichen Kinder liegt, läßt sich nicht entscheiden.
(40)
Es gibt kaum Rabbiner,
Kantoren, rituelle Schächter. Bis Mitte der 80er Jahre gab es keine
religiösen Lehranstalten; Synagogen wurden geschlossen (1956 bestanden 450
Synagogen, 1975 nur noch 69 - das entspricht ca. einer Synagoge auf 23.400
Gläubige); die Versorgung mit koscheren Lebensmitteln war praktisch
unmöglich, die Bildung von jüdischen Vereinen verboten (Mertens, 1993,
S.62ff)
(41)
Dieser Trend ist im
übrigen auch bei den deutschen Aussiedlern ähnlich, bei denen der Anteil
derer, die auschließlich der deutschen Volkszugehörigkeit zuzurechnen sind,
in den letzten Jahren ebenso immer kleiner geworden ist (vgl.
Diakonie-Korrespondenz 10/1995).
(42)
Bei jüdisch klingenden
Nachnamen wurde daneben auch häufig der Name geändert bzw. der Name des
Ehepartners übernommen, was in der UdSSR sonst nicht üblich ist, da Männer
und Frauen auch bei einer Heirat ihre Geburtsnamen i.d.R. behalten.
(43)
Neutralere bzw.
adaptierte klassische Namen finden sich sowohl bei den vor dem Krieg als
auch nach dem Krieg Geborenen (z.B. Alexander). Typisch russische oder
ukrainische Namen sind bei den Vorkriegsgeborenen recht selten und
dominieren bei den Nachkriegsgeborenen absolut (Boris, Igor, Olga, Tamara).
Von anderen sowjetischen Ethnien übernommene Namen sind selten (Dschamila,
Kamal). Moderne ausländische Namen (Denis, Steve) finden sich erst bei den
nach 1980 Jahren Geborenen, offenbar auch ein Ergebnis der sich öffnenden
Sowjetgesellschaft. Interessanterweise erscheinen auch die vorher fast
verschwundenen jüdischen Namen aber ab Ende der 80er Jahre und bei den schon
in Berlin Geborenen wieder (u.U. ein Indiz für ein beginnendes jüdisches
Selbstbewußtsein).
(44)
Dies gilt auch für die
deutsche Minderheit: Beide Gruppen waren einer Nationalitätenpolitik
ausgesetzt, die ihre Unterschiede zur Gesamtbevölkerung systematisch
vernichten wollte. Infolge der ökonomischen Situation und des wiederbelebten
Nationalbewußtseins der ex-sowjetischen Völker sind sie gegenüber den
jeweiligen Majoritäten nach wie vor benachteiligt (Ressourcenvergabe,
Sprach- und Kulturdominanz), zudem werden ihre Autonomiebestrebungen durch
die Migration großer Teile beider Ethnien zunehmend unterlaufen.
(45)
Gründe sind die
geringere Urbanisierung des asiatischen Teils der UdSSR, die dort
religiös-kulturell sehr gemischte Bevölkerung und die Distanz zum
Machtzentrum (Widerstand gegen Russifizierung und Religionsfeindlichkeit war
hier eher möglich als im Unions-Zentrum). Heute führt u.a. die Islamisierung
in einigen Regionen zur Selbstbehauptung und Abgrenzung auch der dortigen
Juden.
(46)
Schmelz konstatiert:
"Diaspora jewry is undergoing a process of diminution, mainly due to the
following factors: severe and prolonged reduction in fertility; assimilatory
losses, partly connected with out-marriages; increased ageing of the Jewish
populations. [..] The proportion of out-marrying Jews is over 20 % in most
Diaspora populations, and in some over 50 %." (1983,S.2f). Ähnliches wird
für den Gebrauch des Jiddischen bzw. Hebräischen festgestellt, wobei die
Zahl der Jiddisch-Sprechenden z.B. in den USA über und in Canada noch unter
dem Niveau der Sowjetunion liegt (ebd. S.37ff). Für (West-)Europa liegen
keine vergleichbaren Daten vor.
(47)
Das wesentliche
Konstitutionsmerkmal der Diaspora-Juden dürfte in der Tat im o.g.
Gemeinschaftsglauben liegen, denn relativ homogen ist die Gruppe lediglich
noch in ihrer ethnischen Eigenbewußtheit: in dem traditionellen
Zusammengehörigkeitsgefühl, basierend auf "historischer
Schicksalsverbundenheit" (Bouman) und dem Glauben an eine gemeinsame
Geschichte, in der internalisierten negativen Bewußtheit als verfolgte
Gruppe, (abnehmend) in der religiösen Selbstdefinition als "auserwähltes
Volk Gottes", der Selbstdarstellung nach außen und in der Ablehnung einer
vollständigen Identifikation mit der Majorität und in der Wahrnehmung durch
diese.
(48)
Z.T. mag die jetzige
Migrationsbewegung auch bereits Folge des Transformationsprozesses der
ehemals sozialistischen Länder sein. Generationsspezifika von DDR-Bürgern,
die im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung von einigen Autoren
genannt werden (u.a. Mayer 1994) treffen in gewisser Weise auch auf die
Zuwanderer zu: bei den Älteren, die relativ identifiziert mit dem alten
System nun massive Statusdegradierungen auch in der alten Heimat hinnehmen
müssen, bei der Zwischengeneration, die wenig Wertbindungen und
Systemzustimmung aufwies und sich nun leichter aus ihrer Umgebung löst und
bei der jungen Generation, die wie in der DDR, über materielle Anreize
gesteuert ist, die sich am unkompliziertesten im Ausland einlösen lassen.
(49)
Eine günstige
berufliche Position bzw. ein hoher Status steht hier nicht zwangsläufig mit
der Zugehörigkeit zur "Intelligenzja", der intellektuellen Oberschicht in
Zusammenhang. Gesuchte Handwerker, Personen mit Zugang zu defizitären
Ressourcen usw. hatten häufig einen höheren Sozialstatus in einigen
Bereichen und höhere Einkommen als Ärze oder Wissenschaftler.
(50)
Ein Beispiel - Alla,
36:" Was glaubst Du, warum die Leute, wenn sie hierherkommen, so große
Ansprüche haben? Die, die hier sind, denen ging's dort auch gut; die anderen
neunzig Prozent schaffen es gar nicht erst auszureisen. Bist du Arzt, kannst
du ein gutes Krankenhaus besorgen, bist du Sänger, sind es Theaterkarten.
Schau mich an. Ich bin eigentlich Musiklehrerin. Ich hab erst für einen
Hungerlohn gearbeitet. Irgendwann sagte ein Freund zu mir: 'Du mußt
umlernen, arbeite mit Deinen Händen.' Also hab ich noch Friseur gelernt. Und
kaum war ich fertig, hatte ich Geld und meine Beziehungen. Der hat
Toilettenpapier besorgt, der nächste Obst - alles was es nur unterm
Ladentisch gab. Eine Hand wäscht die andere. So haben wir [1990] auch die
Visa bekommen. Hätten wir normal gewartet, würden wir heute noch in Kiew
sitzen."
(51)
Eine gewisse "mentale"
Differenz der Migranten der 90er Jahre (unbhängig davon, in welches Land sie
mirgriert sind) besteht zu ihren "Vorgängern" - den religiös oder
zionistisch orientierten aktiven Juden und "Dissidenten", die jahrelange
Kämpfe in der Sowjetunion in Kauf nehmen mußten -, deren Potential durch die
Migration der 70er und frühen 80er Jahre nach Israel weitgehend ausgeschöpft
wurde. Die jetzigen Auswanderer entsprechen eher dem Typus des unpolitischen
"Normalbürgers".
(52)
Hier kommt hinzu, daß
sich die Auskünfte der Migranten z.T. nach den für die hiesige Gesellschaft
angenommenen Normen und Werten richten und von sozialer Erwünschtheit
mitbeeinflußt sind (in Bezug auf die Bindung an das Judentum,
Antisemitismus, Armut, den Wunsch nach Partizipation etc.).
hagalil.com
28-02-03
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