Religion und Kultus:
Wenn ich Rabbi wäre …
Die
Mitgliederbefragung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
Von Judith Kessler
Die Jüdische Gemeinde verfügt
offensichtlich über einen erheblichen Mitgliederanteil, der religiösen
Traditionen skeptisch oder ablehnend gegenübersteht oder/und sich nicht
(mehr) religiös definiert. Möglicherweise ist es an der Zeit, die
ausschließliche Selbstdefinition als Kultusgemeinde, beziehungsweise den
ganzen Bereich des religiösen Lebens zu überdenken.
So gibt die überwältigende Mehrheit der
Befragten, fast 80 Prozent, an, in einer nicht oder nur "etwas" religiösen
Familie aufgewachsen zu sein. Und nur 14 Prozent nennen "Religiosität" als
Grund für ihre Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde.
Dennoch finden es aber fast 80 Prozent
"sehr" oder "ziemlich" wichtig, auf einem jüdischen Friedhof beerdigt zu
werden. Offenbar ist die Herkunft, sind die "Wurzeln" von eminenter
Bedeutung, und will man neben "Seinesgleichen" begraben sein, selbst wenn
eine religiöse Bindung nur noch rudimentär vorhanden ist. Positiv gewendet:
der größte Teil der Mitglieder identifiziert sich – zumindest in dieser Form
– mit seinem Jüdischsein, ein Potential, das darauf wartet, sich auch im
Leben in die jüdische Gemeinschaft einzubringen.
Ein weiteres Indiz für eine positive
Identifikation mit dem Judentum sind die Angaben zum Thema Partnerwahl. Mehr
als die Hälfte aller Befragten hofft, dass das eigene Kind einen jüdischen
Partner wählt. Nur 22 Prozent hält dies für gänzlich unwichtig. Bei geringen
Differenzen zwischen den Geschlechtern und den Altergruppen ist nun
interessant, dass zu keiner einzigen anderen Frage in puncto Judentum soviel
Zustimmung bei GUS-Zuwanderern besteht wie bei dieser: 67 Prozent von ihnen
(aber nur 43 Prozent der in Deutschland geborenen) finden einen jüdischen
Partner für ihr Kind wichtig.
Diesen sehr allgemeinen Angaben steht
jedoch die konkrete Ausgestaltung des eigenen religiösen Lebens gegenüber:
29 Prozent aller Befragten ordnen sich dem "liberalen" Judentum zu, 14
Prozent dem konservativ-traditionellen Judentum, 16 Prozent dem
Reformjudentum, 8 Prozent der Orthodoxie, 12 Prozent verstehen sich explizit
als Atheisten (!), 16 Prozent wissen nicht, wo sie sich einordnen sollen
oder gehören "keiner" Richtung an.
Insgesamt fällt auf, dass Männer eher
als Frauen die Extrempositionen zu beiden Seiten des Maßstabes besetzen: sie
gehen – überspitzt gesagt – entweder gar nicht oder gleich mehrmals in der
Woche zur Synagoge, sie sind entweder "orthodox" oder "atheistisch", usw.,
während sich die Frauen in der Tendenz eher den gemäßigten Positionen
zuordnen. Weiter fällt auf, dass junge Leute häufiger "orthodoxe" bzw.
"gesetzestreue" Positionen vertreten und sich gleichzeitig häufiger als
andere eher verunsichert ("kann ich nicht sagen") als explizit ablehnend
äußern. Hier deutet sich eine Chance für die Gemeinde an. Explizite Gegner
jüdischer Rituale/ Traditionen wird man nicht ändern:
Unwissen/Unsicherheiten lassen sich hingegen noch am ehesten abbauen und in
Zustimmung verwandeln, zumal bei jungen Menschen.
Dessen ungeachtet ergibt sich ein
mitunter alarmierendes Bild bei ganz konkreten Fragen, wie: "Würden Sie Ihr
Kind beschneiden lassen?" Ein Drittel der Befragten würde ihren Sohn nicht
oder wahrscheinlich nicht beschneiden lassen (unter den GUS-Zuwanderern
sogar die Hälfte). Eine Bar- oder Bat-Mizwa würden nur 59 Prozent
befürworten. (Einen Hoffnungsschimmer bilden hier die jungen Mitglieder: sie
sind durchgängig positiv eingestellt.)
Immerhin 28 Prozent der Befragten gibt
an, ein- bis mehrmals pro Woche zur Synagoge zu gehen. Mehr als die Hälfte
besucht sie jedoch nur zu den Hohen Feiertagen oder "sehr selten". 8 Prozent
gehen "nie" in die Synagoge.
Als häufigster Grund des
Synagogenbesuchs wird "Tradition" genannt (57 Prozent), vor allem bei
Zuwanderern und Frauen; immerhin ein Drittel gibt außerdem an, seinen
"Glauben praktizieren" zu wollen (vor allem hierzulande Geborene) und ein
Viertel will "Leute treffen". Männer gehen eher aus Pflichtgefühl und
Respekt vor Gott in die Synagoge, Frauen eher aus Respekt vor den Eltern und
um sich zu informieren.
Qualität, Modernität, Mitbestimmung
könnten die Stichworte lauten, die dem Religionssektor mehr Zulauf
versprechen, glaubt man den Aussagen der Befragten. Fast ein Drittel ist der
Ansicht, der Synagogenbesuch könnte durch interessantere Predigten
attraktiver werden. Moniert wird insbesondere, dass die Gottesdienste nicht
jugendgerecht und auch nicht gegenwarts- bzw. realitätsbezogen sind. Ein
Viertel aller Befragten wünscht sich flankierende Veranstaltungen vor oder
nach dem Gottesdienst. Fast 20 Prozent wollen stärker in die Entscheidungen
der Synagogen einbezogen werden.
Im Kultusbereich fehlt 21 Prozent der
Mitglieder außerdem vor allem "seelsorgerische Betreuung durch Rabbiner".
Sonstige – bislang nicht existierende Angebote (Chewra Kadischa, Mohel,
Rabbinerin, Kinderbetreuung, russischsprachige Rabbiner/Kantoren, etc.)
wurden jeweils von 10–15 Prozent als "persönlich am meisten fehlend"
eingestuft.
37 Prozent der Befragten halten die
Existenz koscherer Lebensmittelläden für wichtig; 27 Prozent behaupten, auch
mehr Geld für koschere Lebensmittel ausgeben zu wollen (hier übrigens vor
allem junge Leute). Erstaunlich ist jedoch, dass 10 Prozent derer, die sich
als orthodox einstufen, koschere Läden nicht wichtig finden und 37 Prozent
von ihnen auch nicht mehr bezahlen würden. Angesichts von nur 8 Prozent
Gemeindemitglieder, die sich als tatsächlich "orthodox-praktizierend"
einstufen, stellt sich dennoch die Frage, ob es nicht preiswerter ist, die
koschere Ernährung dieser Mitglieder zu subventionieren als die Händler.
In der aufschlussreichen Kategorie
"Anderes" orientieren sich die Eintragungen an dem Motto "zwei Juden – drei
Meinungen" – einer will weniger Religion, der nächste will mehr; eine
verlangt eine sefardische Synagoge, die nächste eine weitere liberale; hier
der Ruf nach mehr politischem Engagement der Rabbiner, dort die
Aufforderung, die Rabbiner sollten sich aus der Politik heraushalten.
Einheitsgemeinde eben. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten gibt es jedoch
Forderungen, die durchgängig immer wieder geäußert werden. Diese betreffen
weniger den Inhalt als die Form: "gegenseitiger Respekt" der diversen
religiösen Richtungen, "weniger Bürokratie" im Kultusbereich, "Solidarität"
jenseits religiöser Vorgaben, stärkere Einbindung von Frauen und Mädchen,
mehr Russischsprachiges sowie eine kontinuierlichere Anwesenheit von
Rabbinern in den Synagogen und bei der Krankenbetreuung.
Aus dem Gesamtkontext ergibt sich, dass
– egal wie sich der Kultusbereich anpasst oder ändert – ein Teil der
Gemeindemitglieder einem religiösen Judentum grundsätzlich abgeneigt
gegenüber steht. Auch ein größeres oder anders geartetes Angebot an
religiösen Veranstaltungen oder Themen würde diese Menschen nach ihren
eigenen Angaben nicht locken können. Trotzdem ist über die Hälfte aller
Befragten der Ansicht, dass die Gemeinde in erster Linie eine
Religionsträgerin ist. Bei der Auswertung der Antworten entsteht jedoch der
Eindruck, dass stark zwischen der eigenen und der Rolle der Gemeinschaft
unterschieden wird: für die Religion sind "die Anderen" zuständig. So ist
auch ein Großteil der Befragten der Ansicht, dass die religiöse Erziehung
der Jugend "sehr" (39 Prozent) oder wenigstens "mittelwichtig" (18 Prozent)
ist. Allerdings kommt die Religion bei weiteren 36 Prozent der Befragten
überhaupt nicht mehr im Erziehungskanon vor.
Wie gesagt, etwas mehr als die Hälfte
der Antworter definiert die Gemeinde als Religionsträgerin, 48 Prozent
betonen ihre Funktion als Interessenvertretung; etwa ein Drittel sieht in
ihr vor allem eine Sozial- und Wohlfahrts- (besonders GUS-Zuwanderer) bzw.
Kultur- und Freizeiteinrichtung. Diese Ergebnisse rufen nach einer
innerjüdischen Debatte über das, was uns gemeinsam ist. Ist es am Ende doch
die Religion? Und wenn Ja: Wie müsste der Bereich des religiösen Lebens
seitens der Gemeinde anders gestaltet werden, damit sich die in Berlin
lebenden Jüdinnen und Juden darin entfalten und artikulieren können?
Die Mitgliederbefragung der Jüdischen
Gemeinde zu Berlin
Für weitere Details der Studie
kontaktieren Sie bitte:
Judith Kessler M.A.
jb@jg-berlin.org
hagalil.com
08-05-03
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